5. Diese Zeugnisse der Seele sind ebenso
wahr als einfach, ebenso einfach als alltäglich, ebenso alltäglich als
allgemein, ebenso allgemein als natürlich, ebenso natürlich als göttlich. Ich
möchte nicht glauben, daß es jemandem wertlos und frostig vorkommen wird, wenn
er die Erhabenheit der Natur erwägt, wonach ja die Autorität der Seele
abzuschätzen ist. Gerade soviel als du der Lehrerin gibst, wirst du der
Schülerin zuerkennen; Lehrerin ist die Natur, Schülerin die Seele. Alles, was
jene gelehrt und diese gelernt hat, ist von Gott gekommen als dem Lehrmeister
auch der Lehrerin. Was die Seele in betreff ihres höchsten Lehrers zu ahnen
imstande sei, das zu beurteilen ist an dir nach Maßgabe derjenigen, die in dir
ist. Lerne sie wahrnehmen, sie, die bewirkt, daß du wahrnimmst; beobachte sie,
die in Vorempfindungen eine Seherin, bei Vorzeichen eine Prophetin ist und bei
Ereignissen eine Vorahnung hat. Ist es ein Wunder, wenn sie, von Gott dem
Menschen gegeben, göttlicher Ahnungen fähig ist? Ist es wirklich ein so großes
Wunder, wenn sie den, von welchem sie gegeben ist, kennt? Sogar vom Widersacher
betrogen,
bewahrt sie ja noch die
Erinnerung an ihren Urheber, seine Güte, seinen Ratschluß, ihren Ausgang und
ihren Widersacher, So wenig wunderbar ist es, wenn sie, von Gott gegeben, das
kundtut, was Gott den Seinigen zu wissen gegeben hat!
Jedoch wer solche
Kundgebungen der Seele nicht für die Lehre der Natur und die geheime Hinterlage
des mitgeborenen und angeborenen Wissens hält, der wird dann wohl lieber
behaupten wollen, daß diese Gewohnheit, oder dann richtiger gesprochen diese
Unsitte, durch in das Volk gedrungene Ideen solcher Schriften, die Gemeingut
geworden, an Stärke zugenommen habe, — Jedenfalls war die Seele vor der Schrift
da, die Sprache vor dem Buche, der Gedanke vor dem Griffel, der Mensch an sich
vor dem Philosophen und Dichter. Ist also etwa zu glauben, daß die Menschen vor
dem Entstehen der Büchergelehrsamkeit und deren Verbreitung unter das Volk
stumm ohne derartige Ausdrücke gelebt hätten? Sollte damals niemand von Gott
und seiner Güte, niemand vom Tode, niemand von der Unterwelt geredet haben? Die
Sprache wäre dann schier bettelhaft arm gewesen, oder konnte richtiger gar
keine sein, indem ihr das noch fehlte, ohne welches sie heute, obwohl schon
vollkommener, reicher und gebildeter, nicht zu existieren vermag, wenn nämlich
das, was heute so einfach, so regelmäßig, so naheliegend ist und gleichsam auf
den Lippen selbst entsteht, nicht früher vorhanden war, bevor die
Wissenschaften in der Welt aufgesproßt, bevor Merkur, meine ich, geboren war.
Und wodurch kamen die Wissenschaften selbst in die glückliche Lage, das zu
kennen und als allgemeinen Sprachgebrauch zu verbreiten, was noch kein Geist
jemals empfangen, keine Zunge ausgesprochen und kein Ohr vernommen hatte? Aber
freilich, da die heiligen Bücher, die bei uns oder bei den Juden zu finden
sind, auf die wie auf ein wildes Reis wir eingepfropft sind4), um vieles und nicht bloß um
einen geringen Zeitraum älter sind als die profanen Schriften, — wie wir seines
Ortes5), um ihre
Glaubhaftigkeit nachzuweisen,
gelehrt haben, — wenn also die Seele jene Ausdrücke sich aus Büchern angeeignet
hat, — dann vermutlicherweise jedenfalls aus unseren, nicht aus den Eurigen,
Denn das Frühere ist doch wohl geeigneter für die Unterweisung der Seele als
das Spätere, welches sich ja selbst erst den Unterricht durch das Frühere
gefallen lassen mußte. Auch wenn wir zugeben wollten, daß die Seele ihre
Belehrung aus Euern Schriften geschöpft habe, so würde die Überlieferung doch
noch zu ihrem eigentlichen Ursprung hinanreichen und was Ihr vom Unserigen zu
entlehnen und weiter zu überliefern so glücklich gewesen seid, uns ganz
angehören. Demzufolge macht es keinen großen Unterschied, ob das Wissen der
Seele durch Gott formiert ist oder durch die göttlichen Schriften. Warum, o
Mensch, verlangst du, daß diese Dinge erst von den menschlichen Meinungen
deiner Schriften ihren Ausgang zum feststehenden allgemeinen Sprachgebrauch
genommen haben sollen?