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7. Mit den Parabeln darfst du beginnen,
worin die Rede ist vom verlorenen Schaf, welches der Herr sucht und auf seinen
Schultern zurückbringt. Kommt her selbst mit den Bildern an euren
Bechern64), wenn sogar in diesen sichtbar dargestellt sein soll,
wie jenes Tier zu deuten ist, ob es auf einen christlichen oder auf einen
heidnischen Sünder gehe in Bezug auf die Wiederversöhnung. Wir stellen nämlich
auf Grund einer natürlichen Regel, auf Grund eines Gesetzes der Ohren und der
Zunge, sowie des gesunden Denkens von vornherein den Grundsatz auf, die Antwort
sei stets eine Erwiderung auf das, was sie herausfordert, d. h, sie müsse immer
dem entsprechen, wodurch sie veranlaßt wird. Veranlassung war damals, wie ich
glaube, der Umstand, daß die Pharisäer sich über den Herrn, der Zöllner und
heidnische Sünder zu sich ließ und mit ihnen zusammen aß, ärgerten und murrten.
War es dieser Vorfall, auf welchen der Herr die Wiedereinbringung des
verlorenen Schafes in die Herde als Bild anwendete, so frage ich, auf wen kann
er es sonst bezogen haben, als auf den - s397/743 -
verloren gegangenen Heiden, um
den es sich dort handelte, nicht auf einen Christen, den es noch gar nicht gab?
Oder soll der Herr etwa wie ein Sophist in seiner Antwort von dem damals
gegenwärtigen Falle, den er doch hätte erledigen müssen, absehen und sich mit
etwas Zukünftigem zu schaffen machen?
„Aber Schäflein im
eigentlichen Sinne ist doch der Christ, und die Herde des Herrn ist das Volk in
der Kirche, und der gute Hirte ist Christus, und daher ist. unter dem Schafe
der Christ zu verstehen, der sich von der Herde der Kirche verirrt hat”65). -- Also, du willst es so
haben, daß die Antwort des Herrn auf das Murren der Pharisäer gar nicht passe,
sondern nur auf deine dir beliebte Annahme, Desungeachtet wirst du genötigt
sein, letztere in dem Sinne aufrechtzuerhalten, daß du annimmst, was sich, wie
du glaubst, auf den Christen bezieht, das passe auf den Heiden nicht. Sage mir,
ist denn nicht das ganze Menschengeschlecht eine Herde Gottes? Ist nicht für
alle Völker der Gott, der Herr und der Hirt einer und derselbe? Wer ist mehr
für Gott verloren als der Heide, so lange er irrt? Wer wird eifriger von Gott
gesucht als der Heide, da er doch von Christo zurückgerufen wird? Endlich tritt
dieser Vorgang66) bei den Heiden früher ein; denn es
werden nicht anders aus Heiden Christen, als wenn sie zuvor verloren waren, von
Gott aufgesucht und von Christus zurückgetragen wurden. Daher werden wir die
Ordnung dieses Vorganges auch insofern wahren müssen, daß wir ihn zuerst auf
die deuten, bei denen er sich zuerst vollzieht.
Aber du, dünkt mich,
gehst darauf aus, daß er das Schaf zu einem solchen mache, das nicht aus der
Herde, sondern aus der umfriedigten Hürde oder dem Verschlag hinweg verloren
gegangen sei67). Wenn der Herr - s398/744 -
aber auch
die übrige Zahl gerecht nennt, hat er sie deshalb nicht als Christen
bezeichnet68). Er verhandelt ja mit Juden und will diese besonders
schwer treffen, weil sie sich über die Hoffnung der Heiden ärgerten. Um also
seine Gnade und sein Wohlwollen der Mißgunst der Pharisäer gegenüber auch für
einen einzelnen Heiden zum Ausdruck kommen zu lassen, hat er das durch Buße
bewirkte Heil eines einzigen Sünders höher gestellt als ihr Heil aus der
Gerechtigkeit, Oder sind die Juden etwa nicht die Gerechten und diejenigen,
welche der Buße nicht bedurften69), weil sie als Leitstern der - s399/745 -
Sittenzucht
und als Hilfsmittel der Gottesfurcht das Gesetz und die Propheten besaßen? Er
nahm also sie in die Parabel auf, wenn auch nicht so, wie sie waren, dann doch
so, wie sie sein sollten, um sie desto mehr zu beschämen, wenn sie hörten, daß
die Buße für andere notwendig sei, für sie aber nicht.
Demnach deuten wir
die Parabel von der Drachme, weil sie durch denselben Anlaß provoziert wurde,
ebenfalls auf die Heiden, obgleich die Drachme im Hause, das wäre in der
Kirche, verloren gegangen war, obgleich sie beim Lichte der Lampe, das wäre bei
der Anhörung70) des Wortes Gottes, gefunden wurde.
Aber die ganze Welt ist ein einziges Haus für alle. Dem Heiden, der sich in der
Finsternis befindet, leuchtet darin die Gnade Gottes mehr als dem Christen, der
schon im Lichte Gottes ist. Endlich ist die Verirrung, die dem Schaf und der
Drachme zugeschrieben wird, eine und dieselbe. Wenn sie71) ein Bild des christlichen
Sünders, der nach Annahme des Glaubens verloren ging72), hätten abgeben sollen, so
wäre auch von dem zum zweiten Mal eingetretenen Verlust und der abermaligen
Wiedereinbringung73) gehandelt worden.
Ich trete nun
einstweilen von dieser Position zurück, um sie durch mein Zurücktreten desto
mehr zu verstärken, indem ich auch so noch die gegenteilige Ansicht widerlegen
werde. Ich nehme also nun an, in beiden Parabeln sei ein christlicher Sünder
gemeint. Dann darf man aber doch noch nicht behaupten, es sei ein solcher
gemeint, der nach dem Vergehen des Ehebruchs - s400/746 -
und der Hurerei durch die Buße
wieder in seine Rechte eingesetzt werden könne. Wenn er nämlich auch ein
„Verlorener” genannt wird, so wird doch erst über die Art des Verlorenseins zu
verhandeln sein. Denn auch beim Schafe bestand das Verlorensein nicht im
völligen Tode, sondern im Verirren, und bei der Drachme nicht in Vernichtung,
sondern im Verborgensein. So kann man auch das verloren nennen, was noch
unversehrt ist. Es geht auch der Gläubige verloren, wenn er sich versündigt
durch Zuschauen beim Wahnsinn des Wettrennens und dem blutigen Treiben der
Gladiatoren, bei den Abscheulichkeiten der Bühne und den Eitelkeiten der
Fechtschule, durch Teilnahme an den Spielen, an Gastmählern und bei heidnischen
Festen, wenn er zu den Dienstleistungen und Amtsverrichtungen beim Götzendienst
anderer gewisse Dinge verfertigte oder neugierige Untersuchungen
anstellte74), oder wenn ihm ein zweideutiges Wort der Verleugnung
oder Lästerung Gottes entschlüpfte -- um irgendeines derartigen Fehltrittes
willen ist er aus der Herde ausgestoßen, oder er hat vielleicht aus Stolz,
Hochmut, Eifersucht oder endlich, was häufig geschieht, weil er keine
Züchtigung auf sich nehmen wollte75), sich selber losgesagt, --
er muß wieder aufgesucht und zurückgerufen werden. Was wieder gewonnen werden
kann, ist nicht gänzlich verloren, außer wenn es in seiner Absonderung
verharrt. - s401/747 -
Deine Auslegung der
Parabel wird eine gute sein, wenn du einen Sünder zurückrufst, in welchem noch
Leben ist. Den Ehebrecher und Hurer aber wird jeder sofort nach der Tat einen
Toten nennen. Mit welcher Macht der Stimme wirst du einen Toten der Herde
wieder geben können auf Grund einer Parabel, die doch nicht ein totes Stück
Vieh zurückgerufen werden läßt?! Wenn du endlich an die Prophetien erinnerst,
worin die Hirten gescholten werden, so sagt, glaub ich, Ezechiel: „Ihr Flirten!
Siehe, die Milch verzehrt ihr und in die Wolle kleidet ihr euch; was kräftig
ist, schlachtet ihr, um das Schwache kümmert ihr euch nicht, was gebrochen ist,
habt ihr nicht verbunden, was verscheucht war, nicht zurückgeführt, was
verloren war, nicht gesucht”76). Macht er ihnen etwa auch in Betreff
des Krepierten Vorwürfe, daß sie auch solches der Herde wiederzugeben nicht
bemüht gewesen sind? Allerdings hält er ihnen dringend vor, daß sie Schuld
waren77), daß die Schafe verloren gingen und von den wilden
Tieren aufgefressen wurden, und natürlich, sie müssen ja umkommen und
aufgefressen werden, wenn man sich um sie nicht bekümmert, nicht aber78), daß die umgekommenen und
aufgefressenen wieder gewonnen werden sollen. Wie das Beispiel von der Drachme
zeigt, kann es der Kleinheit und dem geringen Gewicht der Drachme entsprechend
sogar innerhalb der Kirche ganz geringe Vergehen geben79), welche in ihr versteckt, aber
bald in ihr aufgefunden, sofort in ihr unter Freude über die Besserung80) ausgeglichen werden. - s402/748 -
Der Ehebruch aber und
die Hurerei sind keine Drachmen, sondern ganze Kapitalien, die zu suchen man
nicht den Lichtschimmer einer Lampe, sondern die ganze Sonnenhelle nötig hat.
Sobald sie zutage treten, wird der Mensch sofort aus der Kirche verstoßen, er
bleibt nicht darin; er verursacht auch der Kirche keine Freude, wenn sie ihn
wieder findet, sondern Trauer, und sie ruft81) nicht zur Mitfreude die
Nachbarinnen herbei, sondern zur Mittrauer die benachbarten Brüdergemeinden.
Wenn also auch diese unsere jetzige Erklärung82) mit der von jenen gegebenen
in Vergleich gestellt wird, so werden sich die Argumente vom Schaf und der
Drachme um so mehr auf den Heiden beziehen, je weniger sie auf einen Christen
Anwendung finden können, der ein solches Verbrechen begangen hat, wegen dessen
sie von der Gegenpartei gewaltsam auf einen Christen bezogen werden.
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