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8. Sehr viele Erklärer der Parabeln
werden aber durch das Endresultat in derselben Weise enttäuscht, - s403/749 -
wie es oft
beim Besetzen von Gewändern mit Purpurstückchen geschieht. Wenn man glaubt, die
Abtönungen der Farben richtig miteinander in Harmonie gebracht und meint, sie
mit Geschick zu lebensvoller Wirkung untereinander zusammengestellt zu
haben83), dann aber beides, der Leib der betreffenden Person und
das rechte Licht dazu kommt, so treten die Mißtöne zutage und lassen das Ganze
als verfehlt erscheinen. In derselben Finsternis tappen die Erklärer auch bei
der Parabel von den beiden Söhnen fernab vom rechten Lichte in der Deutung des
eigentlichen, vom Gegenstand der Parabel verbrämten Vergleiches umher, indem
einzelne Züge nur für den Augenblick mit ihrer Erklärung harmonieren84).
Sie lassen nämlich
mit den beiden Söhnen zwei Völker gemeint sein, mit dem älteren Sohn das
jüdische Volk und mit dem jüngeren Sohn das christliche. Denn nur so können sie
den jüngeren Sohn als ein Bild des christlichen Sünders, der Verzeihung
erhalten werde, aufstellen, wenn sie in dem älteren Sohne den Juden abgebildet
sein lassen. Wenn ich aber zeigen werde, daß der Vergleich des Juden mit dem
älteren Sohne nicht ganz paßt, so wird infolgedessen ganz natürlich auch der
jüngere Sohn nicht mehr als Bild des Christen gelten können. Denn mag auch das
Judenvolk den Namen Sohn und älterer Sohn bekommen haben, weil es früher
adoptiert wurde, mag es auch dem Christen die Versöhnung mit Gott dem Vater
mißgönnen, was die Gegenpartei ganz besonders betont, so wird der Jude doch
nicht zum Vater sagen können: „Siehe, so und soviel Jahre diene ich dir schon,
und niemals habe ich dein Gebot übertreten”85). Denn wann gab es eine Zeit,
wo der Jude nicht Übertreter des Gesetzes war, wo er mit den Ohren hörte und
doch nicht hörte, - s404/750 -
denjenigen nicht haßte, der ihn unter
den Stadttoren beschämte und das heilige Wort nicht verachtete?86) Weiter kann auch der Vater
nicht zum Juden sagen: „Du bist immer bei mir und alles, was mein ist, ist auch
dein”87). Denn die Juden bekamen den Namen abtrünnige Söhne, die
wohl geboren und großgezogen seien, die aber den Herrn nicht als solchen
behandelt, die ihn verlassen und den Heiligen Israels zum Zorne herausgefordert
haben88). Werden wir fürwahr vom Juden aussagen können, daß ihm
alles zugewiesen sei, da ihm doch die angenehmsten Produkte der Schöpfung zum
Genüsse versagt sind, sogar das Land der Verheißung seiner Väter selber?! Ja
das Judenvolk bettelt heutzutage ebenso wie der jüngere Sohn nach Verprassung
der Güter Gottes im fremden Lande umher, und es dient noch immerfort den
Fürsten desselben, d, h, den Fürsten dieser Welt89).
Die Christen müssen
sich also nach einem anderen Bruder umsehen; denn der Jude als sein Bruder paßt
nicht in die Parabel. Viel passender hätte man den Christen mit dem älteren
Sohne und den Juden mit dem jüngeren gleichgestellt, indem man die Annahme des
Glaubens als Vergleich heranzog, wenn nur die Reihenfolge der beiden Völker,
die bei der Niederkunft der Rebekka vorgezeichnet wurde, eine solche
Vertauschung zuließe. Aber auch dann stände der Schluß im Wege. Denn es wird
sich geziemen, daß sich der Christ über die Wiederannahme des Juden nicht
betrübt, sondern freut, da ja unsere ganze Hoffnung mit der zukünftigen
Erwartung Israels verbunden ist. Wenn also auch einiges paßt, so wird doch
dadurch, daß anderes dagegen spricht, die Durchführung des Vergleiches mit den
Vorbildern zunichte gemacht.
Indessen, wenn auch
alles einander entspräche, wie beim Bilde im Spiegel, so hüte man sich doch
immer vor einer besonderen Klippe der Deutungen, nämlich vor der, daß man sich
das Auffinden von Vergleichungen nicht - s405/751 -
leicht mache90), weil man sie nach fremdartigen
Zielen modelt, nicht wie sie der sachliche Inhalt einer jeden Parabel
gebieterisch an die Hand gibt. Wir wissen recht gut, daß die Schauspieler auch
ihre Gesänge mit allegorischen Gesten begleiten und dadurch Dinge, die dem
jedesmaligen Stück, der Szene und Person fernliegen, sehr passend zum Ausdruck
bringen. Doch lassen wir diese außergewöhnliche Erfindungsgabe, Ich pfeife auf
eine Andromache91), So brüten auch die Häretiker
dieselben Parabeln, indem sie sie auf einen frei ersonnenen Gegenstand, nicht
auf den, der sich gehört, hinrichten, ganz passend aus. Warum sage ich ganz
passend? Weil sie von vornherein, je nachdem die Parabeln ihnen Gelegenheit
dazu boten, den Inhalt ihrer Lehren sich erdichtet haben. Denn nachdem sie sich
von der wahren Glaubensregel losgesagt hatten, stand ihnen das Feld offen, die
Dinge zu suchen und zusammenzustellen, welche in den Parabeln scheinbar
vorgebildet sind.
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