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22. Du aber dehnst diese Vollmacht bereits
auch auf deine Märtyrer aus! Sobald irgendeinem infolge eines vermittelten
Zugeständnisses Fesseln angelegt sind, die ihn unter der neuen Bezeichnung Haft
(Custodia327) gar nicht drücken, so machen ihm sofort die Ehebrecher
ihre Aufwartung, sofort stellen sich die Hurer - s469/815 -
ein, schon ertönen Bitten,
schon fließen Bäche von Tränen aller Befleckten, und niemand erkauft sich den
Einlaß in den Kerker eifriger, als die den Einlaß in die Kirche verloren haben.
Es drängen und drücken sich328) Männer und Frauen in den dunklen
Orten, die man wegen der Gewohnheit, Unzucht zu treiben, wohl kennt, und suchen
den Kirchenfrieden bei denen, deren eigener Friede in Gefahr ist. Andere nehmen
ihre Zuflucht zu den Bergwerken und kommen als Inhaber der Kirchengemeinschaft
von da zurück, wo doch bereits ein anderes Martyrium notwendig wäre wegen der
nach dem Martyrium begangenen neuen Sünden. Denn wer ist auf Erden und im
Fleische ohne Schuld? Wer ein Märtyrer, so lange er noch die Zeitlichkeit
bewohnt, um Groschen bittet, des Arztes bedarf, und beim Gläubiger in Schuld
steht?329) Stelle dir ihn nun vor unter dem Schwerte des Henkers,
wenn sein Haupt bereits in die wagerechte Lage gebracht ist, stelle ihn dir vor
am Kreuze, wenn sein Leib bereits ausgestreckt ist, stelle ihn dir vor am
Pfahl, wenn der Löwe schon zum Sprung ansetzt, stelle ihn dir vor auf dem
Scheiterhaufen, wenn das Feuer bereits angelegt ist, wer gibt dem Menschen selbst
dann, sage ich, wenn er das Martyrium in sicherer Aussicht und sozusagen schon
in der Hand hat330) -- wer gibt ihm die Erlaubnis, zu
vergeben, was Gott vorbehalten werden muß, von welchem jene Sünden ohne
Entschuldigung verdammt worden sind, die nicht einmal die Apostel, soviel ich
weiß, selbst auch Märtyrer, für vergebbar hielten? Hatte ja doch z. B. Paulus
zu Ephesus schon gegen wilde Tiere gekämpft zur Zeit, als er dem Blutschänder
den Untergang zudekretierte. - s470/816 -
Es sei dem Märtyrer
genug, sich von seinen eigenen Vergehungen gereinigt zu haben! Es ist ein
Zeichen von Undankbarkeit und Hochmut, unter andere auszuteilen, was er selbst
um hohen Preis erlangt hat. Wer kann den Tod anderer durch den seinigen sühnen
als nur der Sohn Gottes allein? Denn auch er hat erst während seines Leidens
den Räuber befreit. Er war dazu nämlich gekommen, um, selbst von Sünde rein und
durchaus heilig, für die Sünder zu sterben. Also du, der du ihm nacheiferst in
Vergebung der Sünden, leide ebenso wie er für mich, wenn du selbst keine Sünden
begangen hast. Wofern du aber ein Sünder bist, wie wird das öl deines Lämpchens
für dich und mich ausreichen können?!
Ich habe auch jetzt
noch ein Kennzeichen, um Christus zu erkennen. Wenn Christus zu dem Zwecke im
Märtyrer ist, damit derselbe Hurer und Ehebrecher losspreche, dann möge der
Märtyrer auch die Geheimnisse des Herzens offenbaren, und unter dieser
Voraussetzung möge er die Sünden vergeben, und er ist Christus. Denn in dieser
Weise hat Christus der Herr seine Macht geoffenbart: „Warum denkt ihr Böses in
eurem Herzen? Was ist leichter zu dem Gichtbrüchigen zu sagen: Deine Sünden
sind dir vergeben, oder: Stehe auf und wandle? Damit ihr also wisset, daß der
Menschensohn die Macht habe auf Erden, die Sünden zu vergeben, so sage ich dir:
Gichtbrüchiger, stehe auf und wandle”331). Wenn der Herr so sehr dafür
besorgt war, seine Macht zu beweisen, daß er ihre Gedanken offenlegte und dann
jenem befahl, gesund zu werden, damit man nicht glaube, er besitze nicht die
Macht, Sünden zu vergeben, so darf ich bei niemandem das Vorhandensein dieser
Macht annehmen ohne solche Beweise, Wenn du aber für die Ehebrecher und Hurer
von dem Märtyrer Vergebung erbittest, so gestehst du damit ein, daß derartige
Verbrechen nur durch das eigene Martyrium zu tilgen seien, während du
beanspruchst, es könne durch ein fremdes Martyrium geschehen. So viel ich weiß,
ist auch das Martyrium eine andere Art Taufe. Denn es - s471/817 -
heißt: „Ich
habe auch noch eine andere Taufe”332), weshalb auch aus der
Seitenwunde des Herrn Wasser und Blut floß als Zubereitung beider Taufen. Ich
muß also auch durch die erste Taufe einen anderen befreien können, wenn ich es
durch die zweite kann.
Es drängt mich die
Pflicht, immer und immer wieder zu Gemüt zu führen: Jede Belegstelle, jeder
Grund, der dafür sprechen könnte, dem Ehebrecher und Hurer den Kirchenfrieden
zurückzugeben, verlangt, daß man auch dem Mörder und dem Götzendiener, wenn sie
Buße tun, zu Hilfe komme, sicher auch demjenigen, der den Glauben verleugnet,
und letzterem jedenfalls dann, wenn er im Kampfe wegen des Bekenntnisses durch
die Grausamkeit niedergeworfen wurde, nachdem er mit der Folter gerungen. Im
übrigen wäre es Gottes und seiner Barmherzigkeit unwürdig, unwürdig der
Barmherzigkeit gerade desjenigen333), der die Buße des Sünders
dem Tode desselben vorzieht, daß die Rückkehr in die Kirche für die leichter
sein soll, die in Geilheit, als für die, die im Kampfe gefallen sind. Die
Ungebührlichkeit zwingt uns, uns folgendermaßen auszudrücken: Du willst lieber
von Unreinheit befleckte als mit Blut befleckte Leiber zurückrufen? Welche Buße
verdient mehr Mitleid, die, welche einen von Lüsten gekitzelten Leib in den
Staub beugt, oder einen von den Foltern zerfleischten? Wann ist bei allen
Prozeßsachen gnädige Nachsicht mehr der Billigkeit entsprechend, wenn ein
Sünder sie anruft, der freiwillig, oder einer, der mit Widerstreben sündigte?
Niemand wird mit seinem Willen zum Leugnen getrieben, niemand dagegen begeht Hurerei
ohne seinen Willen. Zur Wollust zwingt uns keine Gewalt, als nur die in ihr
selbst liegende; das, was man aus eigenem Belieben tut, kennt keinen Zwang.
Indes, wie zahlreich sind nicht die Kunstgriffe des - s472/818 -
Henkers, die zur Verleugnung
treiben, sowie die Arten von Martern! Wer ist ein schlimmerer Verleugner
Christi, wer ihn unter Qualen oder wer ihn unter Ergötzlichkeiten verloren hat?
der, welcher bei seinem Verlust Schmerz empfand oder der, welcher dabei
schäkerte? Und doch, jene Narben wurden im christlichen Streite eingedrückt,
und sicherlich tun sie Christus gleichsam Gewalt an, weil sie nach dem Siege
wenigstens begehrten, und auch so noch sind sie ruhmvoll, weil sie nur
unterlagen dadurch, daß sie nicht siegten334). Zu ihnen blickt der Teufel
auch jetzt noch mit Scheu hinauf, bei ihrem Unglück, welches aber doch rein
ist, bei ihrer Buße, die in Trauer, aber ohne erröten zu müssen, auf den Herrn
hingerichtet ist, um bei ihm Verzeihung zu erlangen335). Ihnen wird abermals
vergeben werden, weil sie auf sühnbare Weise den Glauben verleugnet haben. Auf
sie allein paßt das Wort: „Das Fleisch ist schwach”336). Hingegen ist kein Fleisch
so mächtig als das, welches den Geist zu Boden wirft!337)
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