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Giovanni Boccaccio
Decameron

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    • 9. Novelle
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9. Novelle

 

Andriola liebt den Gabiotto. Sie erzählt ihm einen Traum, den sie gehabt hat,

und er sagt ihr wieder, was ihm geträumt habe, warauf er plötzlich in ihren

Armen stirbt. Indem sie mit Hilfe ihrer Magd seinen Leichnam nach seinem Hause

schaffen will, werden sie beide von der Wache angehalten. Sie erzählt dem

Stadtrichter den ganzen Verlauf der Sache und widersteht darauf seinen

ungebührlichen Anmutungen. Ihr Vater erfährt iht Schicksal und bewirkt ihre

Befreiung, indem ihre Unschuld erwiesen wird. Sie entsagt darauf allem Umgange

mit der Welt und geht in ein Kloster.

In Brescia lebte vor Zeiten ein Edelmann, namens Messer' Negro da Ponte Carraro,

der verschiedene Kinder und unter anderen eine sehr schöne, noch unverheiratete

Tochter namens Andreola hatte, die sich zufälligerweise in einen ihrer Nachbarn

verliebte, der Gabriotto hieß, und zwar von geringer Herkunft war, aber von

löblichen Sitten und dabei schön und einnehmend von Gestalt. Mit Beihilfe einer

Magd wußte sie nicht nur Gabriotto ihre Liebe zu erkennen zu geben, sondern es

auch so einzurichten, daß er sie in einem schönen Garten ihres Vaters zu ihrem

beiderseitigen Vergnügen mehr als einmal besuchen konnte, und damit nichts als

der Tod ihre glückliche Verbindung trennen möchte, so wurden sie insgeheim Mann

und Weib. Indem sie nun von Zeit zu Zeit ihre verstohlenen Zusammenkünfte

fortsetzten, traf es sich einmal, daß Andreola im Traume sich mit Gabriotto in

dem Garten zu befinden und ihn voll beiderseitiger Wonne zu umarmen glaubte.

Plötzlich schien es ihr, daß ein schwarzes und schreckliches Wesen aus seinem

Leibe hervorginge, dessen Gestalt sie nicht erkennen konnte, das Gabriotto

ergriff und all ihres Sträubens ungeachtet ihn mit unwiderstehlicher Gewalt

ihren Armen entriß und mit ihm unter der Erde verschwand, so daß sie weder ihn

noch das scheußliche Wesen weiter sehen konnte. Sie empfand darüber einen so

heftigen Schmerz, daß sie davon erwachte. Wiewohl sie sich freute, daß es nur

ein Traum gewesen war, so verursachte dieser Traum ihr doch eilige Besorgnis.

Als demnach Gabriotto am folgenden Abend wünschte, sie zu besuchen, gab sie sich

alle Mühe, ihn davon abzuhalten. Weil er aber so sehr darauf bestand, daß sie

fürchten mußte, er würde etwas Unrechtes argwöhnen, wenn sie sich seinem Willen

widersetzte, so empfing sie ihn des Abends in ihrem Garten, woselbst sie, weil

es Rosenzeit war, viele weiße und rote Rosen pflückten und sich neben einem

schönen, kristallhellen Springbrunnen lagerten. Nachdem sie dort eine geraume

Zeit in süßestem Genusse verweilt hatten, fragte Gabriotto sie nach der Ursache,

weswegen sie ihm diese Zusammenkunft hätte versagen wollen. Sie erzählte ihm

darauf den Traum der vergangenen Nacht und die Angst, die sie deswegen empfunden

habe. Gabriotto lachte darüber und behauptete, es wäre eine große Torheit, an

Träume zu glauben, weil sie bloß von zu vielem oder zu wenigem Essen und Trinken

herrührten, und weil man täglich sähe, daß sie nichtig wären. "Wenn ich", fuhr

er fort, "auf jeden Traum achten wollte, so wäre ich selbst heute nicht zu dir

gekommen, und zwar nicht um deines Traumes willen, sondern wegen eines anderen,

den ich selbst in der vorigen Nacht geträumt habe. Ich glaubte mich nämlich in

einem schönen und anmutigen Walde zu befinden. Ich jagte dort und fing ein Reh,

das so schön und zierlich war, als ich irgend eines gesehen hatte; es war weiß

wie Schnee und gewöhnte sich in kurzer Zeit so sehr an mich, daß es mir nicht

von der Seite ging; dabei war es mir so lieb geworden, daß ich, um es nie zu

verlieren, ihm ein goldenes Halsband umtat, mit einer goldenen Kette, an der ich

es beständig führte. Wie dieses Reh einmal mit seinem Kopf in meinem Schoß

ruhte, schien es mir, als wenn ein kohlschwarzer Windhund (ich weiß nicht

woher), heißhungrig und schrecklich anzusehen, auf mich zugesprungen kam, der

mir die Schnauze an die linke Brust setzte, mir bis an das Herz hineinbiß, es

herausriß und damit fortlief, was mich so greulich schmerzte, daß ich davon

erwachte und den Augenblick mit der Hand nach meiner Seite fühlte, ob ich dort

etwas fände. Als ich aber nichts fand, lachte ich über mich selbst, daß ich

danach gesucht hatte. Allein, was hat das auf sich! Ich habe dergleichen Träume

und noch wohl schrecklicher schon oft gehabt, und mir ist darum nichts mehr noch

weniger geschehen; laß es also nur gut sein und laß uns die Zeit zu unserem

Vergnügen anwenden."

War das junge Weib bereits über ihren eigenen Traum erschrocken, so erschrak sie

jetzt noch mehr, da sie dieses hörte; doch um Gabriotto keinen Unmut zu

verursachen, gab sie sich alle Mühe, ihre Furcht zu verbergen. Obwohl sie ihn

demnach einmal über das andere mit anscheinender Heiterkeit zärtlich umarmte, so

konnte sie sich dennoch nicht enthalten, eine gewisse Unruhe zu empfinden, die

sie sich selbst nicht erklären konnte, und von Zeit zu Zeit, öfter als sie

gewöhnt war, ihm ins Gesicht zu sehen, bald um sich herzuschauen, ob sich nicht

etwas näherte. Mit einem Male stieß Gabriotto einen tiefen Seufzer aus,

schmiegte sich an sie und rief: "O, meine Seele! Hilf mir, ich sterbe!" Mit

diesen Worten sank er nieder auf den Rasen.

Äußerst erschrocken umfing ihn Andreola in ihrem Schoße und fragte mit Tränen:

"Was ist dir, mein Geliebter?" Allein Gabriotto gab keine Antwort; der

Todesschweiß trat ihm auf die Stirn, er atmete nur noch einmal auf und

verschied. Wie heftig sein plötzlicher Tod die junge Frau bewegte, die ihn mehr

als sich selbst liebte, das kann man sich leicht denken. Sie weinte bitterlich

und rief ihn mehr als einmal; allein vergeblich. Nachdem sie ihn am ganzen Leibe

befühlt und ihn überall kalt und erstarrt gefunden hatte, konnte sie seinen Tod

nicht länger bezweifeln. Sie wußte sich weder zu raten noch zu helfen. Mit

verweinten Augen eilte sie, ihre vertraute Magd zu rufen und klagte ihr ihre Not

und ihren Schmerz, und nachdem sie beide eine Zeitlang über dem erblaßten

Antlitz des Gabriotto geweint hatten, sagte die junge Frau zu ihrer Magd: "Ich

mag nicht länger leben, nachdem mir der Tod meinen einzigen Geliebten geraubt

hat; doch ehe ich die Hand an mich selbst lege, wünschte ich, daß wir ein Mittel

finden könnten, meine Ehre und das Geheimnis meiner Liebe in Sicherheit zu

stellen, und diesem Leichnam, dessen geliebter Geist entflohen ist, zum

Begräbnis zu verhelfen."

"Gott verhüte mein Töchterchen," versetzte die Magd, "daß du dich ums Leben

brächtest. Denn nachdem du deinen Geliebten in dieser Welt verloren hast, so

würde er auch in jener Welt für dich ewig verloren sein, wenn du zur Mörderin an

dir selbst würdest; du würdest zur Verdammnis fahren, wohin seine Seele gewiß

nicht gegangen ist, weil er ein edler Jüngling war. Du solltest lieber suchen,

dich zu trösten, und durch Gebete und gute Werke seiner Seele beizustehen, wenn

er dessen vielleicht wegen einiger Sünden bedürfte. Zu seinem Begräbnis ist

leicht Rat zu schaffen. Wir können ihn entweder hier im Garten begraben, und

niemand wird etwas davon erfahren, weil kein Mensch weiß, daß er jemals hierher

gekommen ist; oder wenn dir das nicht gefällt, so laß uns ihn vor den Garten

hinaustragen, wo man ihn morgen früh wohl finden und ihn nach Hause tragen wird,

damit die Seinigen ihn zur Erde bestatten."

So tief betrübt die junge Witwe war und so wenig sie aufhören konnte zu weinen,

so achtete sie doch aufmerksam auf die Ermahnungen der Magd. Der erste Teil

wollte ihr nicht in den Sinn und auf den zweiten gab sie zur Antwort: "Das

verhüte der Himmel, daß ich zugeben sollte, daß mein Geliebter und Gemahl wie

ein Hund verscharrt oder auf die Straße hinausgeworfen würde! Meine Tränen sind

über ihn geflossen, und soviel an mir liegt, will ich dazu beitragen, daß auch

die Tränen seiner Verwandten ihm fließen sollen; ich weiß auch schon, wie wir es

anfangen wollen."

Sie schickte darauf sogleich ihre Magd nach einem seidenen Gewande, das sie in

ihrem Kasten hatte; dieses breitete sie auf die Erde und legte den Leichnam

darauf, legte ihm ein Ohrkissen unter das Haupt, und nachdem sie ihm Mund und

Augen zugedrückt, ihm einen Kranz von Rosen aufgesetzt und ihn mit den übrigen

gepflückten Rosen bestreut hatte, sprach sie zu der Magd: "Von hier bis nach

seiner Haustür. ist der Weg nicht lang; darum wollen wir, sobald wir ihn gehörig

eingewickelt haben, ihn dahin tragen und ihn vor seiner Schwelle niederlegen.

Der Tag ist nicht mehr fern; dann wird man ihn finden, und so wenig tröstlich

dieses für seine Verwandten sein wird, so ist es doch für mich beruhigend, in

deren Armen er gestorben ist."

Mit diesem Worten beugte sie sich noch einmal über das Antlitz des Toten und

badete es lange Zeit mit ihren Tränen. Mehr als einmal mußte die Magd sie

erinnern, daß es schon anfing zu tagen; endlich richtete sie sich wieder auf,

zog den Ring von ihrem Finger, der sie mit Gabriotto vermählt hatte, und sprach

mit Tränen, indem sie ihn an den seinigen steckte:

"Teuerster Gemahl! Wenn dein Geist mich noch umschwebt und meine Tränen sieht,

oder wenn dem Leibe, nachdem die Seele entflohen ist, noch einige Empfindungen

übrig bleiben, so empfange mit Wohlgefallen dies letzte Geschenk von derjenigen,

die du in deinem Leben so sehr geliebt hast." Indem sie dieses sprach, sank sie

ohnmächtig auf den Leichnam hin, und wie sie sich ein wenig wieder erholte, hob

sie mit Hilfe ihrer Magd das Tuch auf, worin er gewickelt war, und nahm ihren

Weg aus dem Garten nach seinem Hause. Der Zufall wollte, daß ihnen von ungefähr

die Wächter begegneten, welche den Leichnam bei ihnen fanden und sie anhielten.

Andreola, welche sich den Tod mehr als das Leben wünschte und die Wächter

erkannte, sprach mit Entschlossenheit: "Ich sehe wohl, wer ihr seid, und daß ich

umsonst versuchen würde, euch zu entfliehen; ich bin bereit, mit euch zu gehen

und mich vor Gericht zu stellen, um von diesem Vorfalle Rechenschaft zu geben;

doch keiner von euch unterstehe sich, da ich euch willig folge, Hand an mich zu

legen oder etwas an diesem Leichnam zu berühren, wenn er nicht will, daß ich ihn

verklagen soll." Die Wächter gehorchten und führten sie nach dem Richthause,

ohne sie oder den Leichnam anzutasten.

Der Richter stand auf, ließ Andreola in sein Zimmer kommen und verhörte sie sehr

umständlich, und nachdem auch die Ärzte den Leichnam besichtigt und untersucht

hatten, ob er nicht durch Gift umgekommen wäre, verneinten sie solches und

erklärten, daß ihm ein Blutgefäß nahe am Herzen zersprungen sei, das ihn

erstickt habe. Wie der Richter vernahm, daß man ihr wenig oder gar nichts zur

Last legen könnte, wollte er sich dennoch das Ansehen geben, daß er ihr eine

Gunst erwiesen indem er ihr nur bloße Gerechtigkeit widerfahren ließ, und wollte

ihr dagegen zumuten, ihre Freiheit von ihm auf Kosten ihrer Tugend zu erkaufen.

Sie wies aber sein Verlangen mit Verachtung ab, und wie er darauf wider alles

Recht und Billigkeit Gewalt brauchen wollte, lieh ihr gerechter Zorn ihr

männliche Kräfte, sie verteidigte ihre Ehre gegen ihn, indem sie ihm zugleich

mit schmählichen Worten seine Niederträchtigkeit vorwarf.

Indessen brach der Tag an; Messer' Negro erfuhr alles, eilte höchst betrübt mit

vielen seiner Freunde nach dem Richthause, beschwerte sich über das Verfahren

gegen seine Tochter und verlangte sie zurück. Der Stadtrichter, welcher lieber

mit guter Manier selbst eingestehen wollte, daß er Gewalt versucht hätte, als

die Anklage der jungen Witwe abzuwarten, erhob ihre Tugend und Standhaftigkeit

mit vielen Lobsprüchen und gestand, daß er beide ,auf die stärkste Probe gesetzt

habe, um sie zu prüfen; .ihr standhaftes Betragen habe ihn demnach zur Liebe

bewogen, daß er sie, wenn ihr Vater und sie selbst nichts dawider hätten, gern

zur Gemahlin nehmen würde, obwohl sie die Witwe eines Mannes von geringem Stande

wäre. Indem davon gesprochen ward, erblickte Andreola ihren Vater, eilte ihm mit

Tränen entgegen und sagte: "Mein Vater, ich glaube nicht, daß ich nötig habe,

Euch die Geschichte meiner Unbesonnenheit und meines Unglücks zu erzählen; denn

gewiß habt Ihr schon alles gehört und erfahren. Ich bitte Euch demnach, mir

meinen Fehler zu verzeihen, daß ich ohne Euer Vorwissen denjenigen zu meinem

Gemahl machte, den ich über alles liebte. Indem ich diese Verzeihung von Euch

begehre, wünsche ich damit nicht mein Leben zu fristen, sondern nur als Eure

Tochter und nicht als eine Euch Verhaßte aus der Welt zu scheiden."

Mit diesen Worten fiel sie ihm weinend zu Füßen. Messer' Negro, der schon sehr

bei Jahren und von Natur ein liebreicher, gutmütiger Mann war, weinte selbst

über ihre Worte und sprach zu ihr, indem er mit nassen Augen sie aufhob: "Meine

Tochter, es wäre mir freilich unendlich lieber gewesen, wenn du einen Mann nach

meinem Herzen genommen hättest, oder wenn du ja deiner eigenen Wahl folgen

wolltest, so hätte ich mir auch das gefallen lassen; darum muß es mich

schmerzen, daß du mir deine Wünsche verschwiegen und mir so wenig Zutrauen

bewiesen hast. Doch da die Sachen nun einmal so stehen, so will ich dasjenige,

was ich für deinen Gatten in seinem Leben gern getan hätte, auch jetzt im Tode

an ihm tun: daß ich ihn nämlich liebe und ehre als meinen Schwiegersohn.

Er wandte sich hierauf an seine Kinder und Verwandten und befahl ihnen, dem

Gabriotto ein ehrenvolles Leichenbegängnis zu halten. Unterdessen waren auch die

Verwandten und Freundinnen des Verstorbenen und fast alle Männer und Weiber der

Stadt herbeigekommen. Man stellte deswegen den Leichnam auf dem Hofe aus, in dem

Tuche, worin Andreola ihn gewickelt, und bedeckt mit allen Rosen, womit sie ihn

bestreut hatte, und es beweinten und beklagten ihn nicht nur die Frauenzimmer,

die mit ihm verwandt waren, sondern fast alle Weiber und manche Männer in der

Stadt, und er ward nicht wie ein gemeiner Mann, sondern wie ein vornehmer Herr

von den angesehensten Bürgern der Stadt aus dem Schloßhofe zu Grabe getragen.

Nach einiger Zeit warb der Stadtrichter aufs neue um Andreola, und ihr Vater

unterstützte seinen Antrag bei ihr. Allein sie wollte von ihm nichts hören, und

da ihr Vater sie bei ihrem Willen ließ, so ging sie mit ihrer Magd in ein

Kloster, das wegen der Frömmigkeit seiner Bewohnerinnen berühmt war. Hier lebten

sie noch lange Zeit als Nonnen in frommer Zurückgezogenheit.

 

 

 

 




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