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Giovanni Boccaccio
Decameron

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    • 29. Novelle
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29. Novelle

 

 

Mithridanes, der im Begriff ist, den Nathan aus Eifersucht über seine

Wohltätigkeit umzubringen, trifft ihn an, ohne ihn zu kennen, und erfährt von

ihm selbst, wie er ihm am leichtesten beikommen kann. Demzufolge findet er ihn

in einem Wäldchen, wird beschämt, indem er ihn erkennt und wird sein Freund.

Wenn man den Versicherungen einiger Genuesen und anderer Reisenden, die in Kitay

gewesen sind, Glauben beimessen kann, so lebte in jener Gegend ein sehr

vornehmer und überaus reicher Mann namens Nathan. Dieser besaß ein Landgut an

einer Heerstraße, die ein jeder notwendig ziehen mußte, der entweder vom

Morgenlande nach dem Abendlande oder vom Abend- nach dem Morgenlande reisen

wollte. Da er nun ein wohltätiger, gastfreier Mann war und seine Gesinnung gern

durch die Tat an den Tag legte, so ließ er von Meistern die in seinem Dienst

standen, in kurzer Zeit einen von den größten, prächtigsten und schönsten

Palästen, die man jemals gesehen hat, erbauen und alles in reichlicher Menge

anschaffen, was nötig war, um jeden Biedermann nach Stand und Würden aufzunehmen

und zu bewirten, und seine zahlreiche Dienerschaft mußte einen jeden, der ging

und kam, mit Fröhlichkeit empfangen und ihm aufwarten. Und so lange übte er

diese löbliche Sitte, daß der Ruf davon nicht nur im Orient, sondern auch im

Okzident sich überall verbreitete.

Als er schon alt und betagt wurde und dennoch in seiner Gastfreiheit nicht

ermüdete, kam von ungefähr das Gerücht von ihm zu den Ohren eines Jünglings

namens Mithridanes, der in einem nicht weit entfernten Lande wohnte. Da er sich

bewußt war, ebenso reich zu sein wie Nathan, so ward er eifersüchtig auf seine

Tugenden und auf seinen Ruhm und beschloß, ihn durch eine noch größere

Freigebigkeit zunichte zu machen oder zu verfinstern. Er ließ einen ebenso

geräumigen Palast bauen wie der des Nathan und fing an, einen jeden

Vorüberreisenden mit dem größten und unerhörtesten Aufwande zu bewirten, so daß

er sich wirklich in kurzer Zeit keinen geringen Namen erwarb. Es traf sich

jedoch einmal, indem der junge Mann allein im Hofe seines Palastes lustwandelte,

daß ein armes Weiblein durch eine der vielen Pforten zu ihm hereinkam und ihn um

ein Almosen bat, das er ihr auch gab. Sie kam durch eine andere Pforte wieder

 

herein und bat ihn um ein zweites Almosen, das sie gleichfalls empfing, und so

fuhr sie zwölfmal nacheinander fort. Als sie endlich auch noch das dreizehnte

Mal wiederkam, sagte Mithridanes: "Gute Frau, du wiederholst deine Bitte ein

wenig oft." Doch gab er ihr wieder ein Almosen. Auf diese Worte hin rief die

Alte: "Oh, wie bewunderungswürdig ist die Wohltätigkeit des Nathan! Ich bin zu

ihm durch die zweiunddreißig Pforten eingegangen, die sein Palast ebenso wie

dieser hat, und habe ihn um ein Almosen gebeten, und jedesmal hat er es mir

gegeben, ohne sich auch nur einmal merken zu lassen, daß er mich wiedererkannt

hätte; und hier erkennt man mich schon das dreizehnte Mal und macht mir

Vorwürfe.

Mit diesen Worten ging die Alte davon und kam nicht wieder. Als Mithridanes

hörte, was sie sagte, und das Lob des Nathan als eine Schmälerung seines eigenen

Ruhmes betrachtete, geriet er in Wut und dachte: "Wehe mir! Wann werde ich die

Freigebigkeit des Nathan, die ich zu übertreffen gedachte, in großen Dingen auch

nur erreichen, da ich es ihm im kleinen nicht einmal gleichtun kann? Wahrlich,

alle meine Mühe ist vergebens, wenn ich ihn nicht selbst aus dem Wege räume, und

da ihn seine Jahre nicht unter die Erde bringen, so muß ich es mit eigenen

Händen tun." In dieser Anwandlung von Jähzorn machte er sich auf und stieg, ohne

sich mit jemand über seinen Plan zu besprechen, mit einigen wenigen Begleitern

zu Pferde und gelangte am dritten Tage an den Ort, wo Nathan wohnte. Er befahl

seinen Begleitern, sich nicht merken zu lassen, daß sie zu ihm gehörten, sondern

sich selbst Herberge zu suchen und zu warten, bis sie weitere Befehle von ihm

empfingen.

Er kam gegen Abend ganz allein an. Von ungefähr begegnete er Nathan, der ohne

alle Begleitung, nicht weit von seinem schönen Palaste, in ganz schlichter

Kleidung spazierend ging. Er kannte ihn nicht und fragte ihn, ob er ihm nicht

sagen könne, wo Nathan wohne.

"Mein Sohn," antwortete ihm Nathan freundlich, "das kann dir in dieser ganzen

Gegend niemand besser sagen als ich; und wenn du willst, so bin ich bereit, dich

selbst hinzuführen.

Der Jüngling erwiderte, daß ihm dieses sehr lieb sein würde; allein, wenn es

möglich wäre, so müßte es so geschehen, daß er von Nathan weder erkannt noch

gesehen würde.

"Auch dies will' ich dir zu Gefallen tun, weil du es wünschest", sprach Nathan.

Mithridanes stieg also vom Pferd und ging mit Nathan, der ihn mit allerlei

angenehmen Gesprächen unterhielt, bis an seinen Palast, wo Nathan einem von

seinen Dienern befahl, das Pferd des Fremdlings in acht zu nehmen, und ihm

zugleich heimlich ins Ohr sagte, er möge eiligst alle Leute im Hause warnen,

sich gegen den Jüngling merken zu lassen, daß er Nathan wäre. Als sie in den

Palast traten, führte er Mithridanes in ein schönes Zimmer, wo ihn niemand sah

außer denen, die er selbst zu seiner Aufwartung bestellte; und hier ließ er ihn

aufs beste verpflegen und leistete ihm selbst Gesellschaft.

Mithridanes lernte ihn bei näherer Bekanntschaft wie einen Vater verehren. Doch

konnte er nicht umhin, ihn eines Tages zu fragen, wer er sei.

"Ich bin", gab er ihm zur Antwort, "nur einer der geringsten Diener des Nathan.

Von meiner Jugend an bin ich mit ihm aufgewachsen und bin mit ihm alt geworden;

ich bin aber bei ihm nie weitergekommen, als du siehst; denn obgleich ihn sonst

jeder in allen Tonarten preist, so kann ich mich seiner doch nicht sehr rühmen."

 

Aus diesen Worten schöpfte Mithridanes Hoffnung, seinen schnöden Anschlag leicht

und mit weniger Gefahr ausführen zu können. Nathan fragte ihn darauf höflich,

wer er sei und welche Absicht ihn hergeführt hätte, und erbot sich, ihm in allem

nach seinen Kräften mit Rat und Tat beizustehen. Mithridanes zögerte ein wenig,

was er ihm antworten solle, entschloß sich aber am Ende, sich ihm völlig

anzuvertrauen, und nachdem er in einer langen Vorrede ihn um Treue und

Verschwiegenheit gebeten hatte, forderte er Rat und Beistand von ihm, indem er

ihm zugleich seinen Namen und seine Absicht ohne Rückhalt entdeckte.

Nathan konnte zwar die Rede und den heimtückischen Vorsatz des Mithridanes nicht

ohne innerliche Erschütterung mit anhören; doch faßte er sich und antwortete ihm

ruhig und gefaßt, ohne sich lange zu bedenken: "Mithridanes, dein Vater war ein

edler Mann und du willst ihm nicht nachstehen und hast deswegen das große Werk

unternommen, dich gegen alle Menschen freigebig und wohltätig zu beweisen. Ich

tadle dich auch nicht, daß du auf Nathans Tugenden eifersüchtig bist, denn wenn

dir viele nacheiferten, so würde die Welt, die voll Elend ist, bald gut und

glücklich werden. Dein Vorhaben, das du mir eröffnet hast, soll gewiß

verschwiegen bleiben; darin kann ich dir jedoch besser mit gutem Rat als mit

tätiger Hilfe beistehen.

Mein Rat ist dieser: Du siehst von hier aus in einer Entfernung von ungefähr

einer halben Meile ein kleines Gehölz, in dem Nathan jeden Morgen ganz allein

eine geraume Zeit zu seinem Vergnügen umherwandelt. Dort kannst du ihn ohne Mühe

finden und mit ihm verfahren, wie du es für gut findest. Wenn du ihn getötet

hast, so geh, um sicher wieder nach Hause zu gelangen, nicht denselben Weg, den

du hergekommen bist, sondern folge dem, der dich, wie du sehen wirst, linker

Hand aus dem Gehölz führt. Er ist zwar etwas verwildert, allein er führt dich

näher und sicherer nach Hause."

Als Mithridanes diese Weisung erhalten und Nathan sich entfernt hatte, gab er

seinen Leuten, die auch dorthin gekommen waren, Nachricht, wo sie ihn am

folgenden Tag erwarten sollten. Sobald der neue Tag anbrach, ging Nathan, dem

Ratschlage gemäß, den er Mithridanes gegeben hatte und der völlig seiner

Gesinnung entsprach, ganz allein in das Wäldchen, um dort zu sterben.

Mithridanes stand gleichfalls auf, nahm seinen Bogen und sein Schwert, die

einzigen Waffen, die er hatte, stieg zu Pferde und ritt dem Wäldchen zu, wo er

von ferne Nathan, ganz allein wandelnd, gewahr ward. Da er wünschte, ihn erst zu

sehen und reden zu hören, ehe er ihn erschlug, so sprengte er auf ihn zu,

ergriff ihn bei dem Turban, den er um das Haupt trug, und sprach: "Alter, du

bist des Todes!"

"Dann habe ich ihn verdient", antwortete Nathan.

Als Mithridanes seine Stimme hörte und sein Angesicht erblickte, erkannte er ihn

augenblicklich als den, der ihn so gütig aufgenommen, so vertraulich begleitet

und ihm so aufrichtig geraten hatte. Sein Haß verließ ihn, sein Zorn verwandelte

sich in Schamröte, er warf sein Schwert, das er schon zum Mordstreich gezückt

hatte, von sich, sprang vom Pferde, warf sich dem Greis mit Tränen zu Füßen und

sagte: "Jetzt, teurer Vater, erkenne ich in der Tat Eure Freigebigkeit, indem

ich sehe, mit welcher Gelassenheit Ihr hierhergekommen seid, mir Euer Leben zu

schenken, dem ich ohne Ursache nachgestellt und es Euch selbst offenbart habe.

Aber Gott, der im entscheidenden Augenblick besser über mich und über meine

Pflicht wachte als ich selbst, hat mir die Augen des Geistes geöffnet, die mein

schändlicher Neid mir verschlossen hatte; und je mehr Ihr bereit gewesen seid,

mir zu willfahren, um desto mehr ist es meine Pflicht, mein Verbrechen zu

sühnen. Rächt Euch demnach an mir, so wie Ihr glaubt, daß mein Vergehen es

verdient." Nathan hieß ihn aufstehen, umarmte ihn zärtlich, küßte ihn und sagte:

"Mein Sohn, du magst deinen Vorsatz, böse nennen oder nicht, so brauchst du

deswegen nicht um Verzeihung zu bitten, und ich habe nicht nötig, dir zu

verzeihen; denn du faßtest ihn nicht aus Haß, sondern um für besser gehalten zu

worden. Sei demnach unbesorgt vor mir und sei versichert, daß kein Mensch in der

Welt dich mehr liebt als ich, indem ich deinen hochstrebenden Geist erwäge, der

dich antreibt, nicht Reichtümer anzuhäufen, wie die Geizigen tun, sondern deine

gesammelten Schätze wohl anzuwenden. Schäme dich auch nicht, daß du mir nach dem

Leben getrachtet hast, um berühmt zu werden, und glaube ja nicht, daß ich mich

darüber wundere. Die erlauchtesten Kaiser und die größten Könige haben fast

durch keine andere Kunst ihre Grenzen erweitert und folglich ihren Ruhm vermehrt

als durch Totschlag, und zwar haben sie nicht, wie du tun wolltest, nur einen

Menschen, sondern viele Tausende hingeopfert, Länder verheert und versengt und

Städte dem Erdboden gleichgemacht. Wenn du demnach, um deinen Ruhm heller

erstrahlen zu lassen, mich einzelnen Mann aus dem Wege räumen wolltest, so

tatest du nichts Außerordentliches, sondern etwas sehr Gewöhnliches."

Mithridanes suchte sein verkehrtes Vorhaben nicht zu bemänteln, sondern wußte es

Nathan Dank, daß er selbst es so glimpflich entschuldigte. Indem er das Gespräch

fortsetzte, bezeigte er ihm sein Erstaunen darüber, daß Nathan sich hätte

entschließen können, seine Absicht zu befördern und ihm selbst dazu noch seinen

Rat gegeben habe.

Nathan antwortete: "Mithridanes, du mußt dich über meinen Rat und meinen

Entschluß nicht wundern; denn seitdem ich mein eigener Herr und Herr meiner

selbst bin, habe ich gesucht, das zu tun, was du gleichfalls unternommen hast,

und niemand ist in mein Haus gekommen, dem ich nicht nach meinem besten Vermögen

alles gewährt hätte, was er von mir verlangte. Du kamst und trachtetest nach

meinem Leben, und als ich dich deinen Wunsch äußern hörte, wollte ich nicht, daß

du der einzige sein solltest, der mich unbefriedigt verließe; darum entschloß

ich mich unbedenklich, dir mein Leben aufzuopfern, und damit es dir nicht

fehlte, so zeigte ich dir selbst den Weg, wie du mir mein Leben rauben könntest,

ohne das deinige in Gefahr zu setzen. Und darum sage ich dir noch einmal und

bitte dich, nimm es mir, wenn es dir behagt, und erfülle deinen Wunsch, ich

wüßte nicht, wie ich es besser verlieren könnte. Ich habe es nun achtzig Jahre

genossen und es nach meinem Wohlgefallen und meiner Freude angewandt, und ich

weiß, daß mir nach dem Naturgesetz, wie es das Beispiel des Menschen und aller

übrigen Geschöpfe beweist, nur noch eine kleine Frist übrig bleibt. Diese zu

verschenken, wie ich bisher meine Schätze verschenkt und dahingegeben habe,

scheint mir besser, als mein Leben so lange behalten zu wollen, bis die Natur es

mir wider meinen Willen nimmt. Hundert Jahre sind nur ein kleines Geschenk,

wieviel mehr denn sechs oder acht, die ich noch erleben könnte? Nimm es also,

wenn es dir gefällt, ich bitte dich darum, denn in meinem ganzen Leben habe ich

noch niemand gefunden, der es begehrt hätte, und wenn du, der du danach

trachtest, es nicht nimmst, so weiß ich nicht, wann sich ein Liebhaber dazu

finden wird. Und gesetzt, es fände sich auch ein anderer, so weiß ich doch, daß

es mit den Jahren immer mehr von seinem Wert verliert. Nimm es denn, ich bitte

dich, ehe es noch mehr in seinem Werte sinkt." Mithridanes entgegnete tief

beschämt:

"Gott bewahre, daß ich ein so teures Gut wie Euer Leben rauben oder länger

danach trachten sollte, wie ich einst getan habe! Ehe ich seine Jahre verkürzen

wollte, wünsche ich lieber, wenn es möglich wäre, sie mit den meinigen zu

verlängern."

"Und wenn du das könntest, wolltest du es dann wirklich auch tun?" fragte Nathan

hastig. "Wolltest du mir erlauben, das zu tun, was ich noch niemand getan habe:

von deinem Eigentum etwas anzunehmen, der ich noch niemals fremdes Eigentum

angenommen habe?"

Ja!" antwortete Mithridanes, ohne sich zu besinnen. "Wohlan, so tue, wie ich dir

sage," sprach Nathan, "du bleibst, jung wie du bist, unter dem Namen Nathan in

diesem Hause, und ich beziehe das deinige und lasse mich künftig Mithridanes

nennen."

Mithridanes antwortete: "Wenn ich so löblich zu handeln verstände, wie Ihr es

versteht und verstanden habt, so würde ich ohne langes Bedenken Euer Anerbieten

annehmen; allein, da ich gewiß weiß, daß mein Betragen den Ruhm des Nathan nur

vermindern würde, und da ich einem andern das nicht verderben mag, was ich an

mir selbst nicht zur Vollkommenheit zu bringen verstehe, so muß ich es

ausschlagen." .

So führten Mithridanes und Nathan noch manche angenehmen Gespräche miteinander

und gingen auf den Wunsch Nathans zusammen zurück in den Palast, wo Nathan

Mithridanes noch einige Tage aufs gastfreieste bewirtete und ihn mit aller

Sorgfalt und Weisheit in seinem edlen und löblichen Bestreben bestärkte. Als

endlich Mithridanes den Wunsch äußerte, mit seiner Gefolgschaft wieder nach

Hause zu reisen, entließ ihn Nathan, nachdem er ihn völlig überzeugt hatte, daß

er ihn an Freigebigkeit nimmermehr würde übertreffen können.

 

 

 

 

 




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