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Giovanni Boccaccio
Decameron

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    • 2. Novelle
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2. Novelle

 

Martellino verstellt sich als Krüppel und gibt vor, durch den Leichnam des hl.

Heinrich geheilt worden zu sein. Sein Betrug wird entdeckt, er wird geprügelt,

wird festgesetzt, und läuft große Gefahr, gehenkt zu werden; kommt aber noch

glücklich davon.

Es lebte vor nicht langer Zeit in Treviso ein Deutscher namens Heinrich, ein

armer Mann, der sein Brot als Lastträger verdienen mußte, aber dabei einen sehr

frommen Wandel führte und bei jedermann beliebt war, daher denn, wie die Leute

aus Treviso versichern (es mag nun wahr sein oder nicht), in der Stunde seines

Todes die Glocken der Hauptkirche zu Treviso, ohne von jemand gezogen zu sein,

von selbst anfangen zu läuten. Das ward von jedermann für ein Wunder und

Heinrich deswegen für einen Heiligen gehalten; alles Volk in der Stadt lief

zusammen nach dem Hause, wo sein Leichnam lag, den sie wie eine Reliquie nach

der Hauptkirche trugen, und Lahme, Gichtbrüchige, Blinde und Kranke jeder Art,

oder Leute, die sonst Mängel hatten, zu ihm brachten, als ob die Berührung

seines Leibes sie alle gesund machen könnte. Während dieses allgemeinen Zulaufes

begab es sich, daß in Treviso drei Männer aus Florenz ankamen, wovon der eine

Stecchi hieß, der andere Martellino und der dritte Marchese, die ihr Brot damit

verdienten, daß sie an den Höfen umherzogen und die Leute damit belustigten, daß

sie die Gebärden eines jeden Menschen nachmachten. Da sie hier noch nie gewesen

waren, so wunderten sie sich, einen so großen Auflauf von Menschen zu finden,

und wie sie die Ursache davon erfuhren, wurden sie neugierig, dieselbe auch zu

sehen; sie ließen demnach ihr Gepäck in einer Herberge, und Marchese sagte: "Wir

wollen zwar hingehen, den Heiligen zu sehen, allein ich weiß wahrlich nicht, wie

wir zu ihm gelangen wollen, weil ich höre, daß der Platz voll von Deutschen und

andern Landsknechten ist, die der Herr der Stadt dort auf den Beinen hält, um

Unruhen zu verhüten; überdies ist die Kirche (sagt man) so voll von Menschen,

daß man fast nicht hineinkommen kann."

Martellino, der sehr neugierig war, sagte: "Das soll uns nicht hindern; ich will

wohl ein Mittel finden, bis zu dem Leichnam vorzudringen."

"Und wie denn?" fragte Marchese.

"Das will ich dir sagen`, entgegnete Martellino. "Ich will mich wie ein

Gichtbrüchiger anstellen, und du sollst mich an einer Seite und Stecchi an der

anderen führen, als wenn ich allein nicht gehen könnte, und ihr wolltet mich zu

dem Heiligen bringen, daß er mich gesund mache. Da wird kein Mensch sein, wenn

er uns sieht, der uns nicht aus dem Wege ginge, uns Platz zu machen.

Dieses gefiel Marchese und Stecchi, und sie beeilten sich, ihre Herberge zu

verlassen. Sie gingen an einen einsamen Ort, wo sich Martellino die Hände,

Finger, Arme und Beine, die Augen und das Gesicht dermaßen verrenkte und

verdrehte, daß es scheußlich anzusehen war; wer ihn erblickte, konnte nicht

umhin, zu glauben, daß er am ganzen Leibe verstümmelt und gelähmt wäre. So

faßten ihn Marchese und Stecchi unter die Arme und gingen mit ihm nach der

Kirche mit ganz andächtiger Miene und baten demütig und um Gottes willen einen

jeden, der ihnen im Wege war, Platz zu machen, was auch bereitwillig geschah.

Jeder erwies ihnen Aufmerksamkeit, überall ward "Platz! Platz!` gerufen, und sie

gelangten bis zur Leiche des heiligen Heinrich, die von einigen angesehenen

Männern umgeben war, die den Martellino auf den Leichnam hoben, damit er die

Gabe der Gesundheit von ihm empfinge. Martellino, auf welchen aller Augen

gerichtet waren, lag ein wenig still und wußte dann meisterlich erst den einen,

dann den anderen Finger zu regen, dann die Hand, dann einen Arm, bis er sich

endlich völlig aufrichtete. Wie das die Leute sahen, brach ein jeder so laut in

Lobsprüche auf den heiligen Heinrich aus, daß man kein Wort vor dem andern

verstehen konnte.

Zum Unglück stand nicht weit davon einer von seinen florentinischen Mitbürgern,

der den Martellino sehr gut kannte, und wie er ihn, nachdem er sich ganz

aufgerichtet hatte, gewahr ward, überlaut zu lachen anfing und sagte:

"Daß doch der Henker den Kerl! Wer sollte nicht gedacht haben, wie er herkam,

daß er wirklich gichtbrüchig Wäre?"

Dieses hörten einige Leute aus Treviso und fragten, ob der Mensch denn wirklich

nicht gichtbrüchig wäre.

"Gott bewahre!" sprach jener. "Er war immer so gerade wie der Beste von uns;

aber er versteht besser als irgendein anderer Gaukler die Kunst, sich eine jede

Gestalt zu geben, wie ihr wohl gesehen habt."

Wie dieses ruchbar ward, brauchte es nichts weiter, um den Pöbel aufzubringen,

der hinzustürmte und schrie: "Greift den Schelm, den Spötter Gottes und seiner

Heiligen, der so gesund ist wie wir und den Gichtbrüchigen mimt, um uns und

unsern Heiligen zu verspotten."

Mit diesen Worten ergriffen sie ihn, zogen ihn von dem Gerüst herunter, zerrten

ihn bei den Haaren, rissen ihm die Kleider vom Leibe und bearbeiteten ihn mit

Faustschlägen und Rippenstößen; kurz, man schien zu glauben, wer ihm nicht eins

versetzte, der könnte kein braver Kerl sein. Martellino bat zwar um Gottes

willen um Barmherzigkeit und wehrte sich dabei seiner Haut, so gut er konnte;

allein es half alles nichts, und die Faustschläge und Fußtritte fielen immer

dichter. Wie Stecchi und Marchese dies gewahr werden, fürchteten sie, es möchte

ein schlimmes Ende nehmen, und da sie für sich selbst besorgt waren, so durften

sie es nicht wagen, ihrem Kameraden zu Hilfe zu kommen. Im Gegenteil schrien sie

so laut wie die übrigen: "Schlagt ihn tot, den Hund!" Doch sannen sie im stillen

auf ein Mittel, ihn den Händen des Pöbels zu entreißen, der ihn gewiß würde

getötet haben, wenn nicht Marchese beizeiten auf einen glücklichen Einfall

gekommen wäre. Dieser, der bemerkt hatte, daß die ganze löbliche Polizei zugegen

war, ging, so eilig er konnte, zu dem vom Stadtvogt bestellten Kommandanten und

rief: "Helft um Gottes willen! Hier ist ein Spitzbube, der mir meinen Beutel mit

mehr als hundert Goldgulden gestohlen hat; ich bitte Euch, laßt ihn festnehmen,

damit ich das Meinige wiederbekomme."

Den Augenblick liefen ein Dutzend Häscher dahin, wo man dem armen Martellino den

Pelz wusch. Mit genauer Not gelang es ihnen, den zusammengerotteten Pöbel zu

zerstreuen und ihm den Martellino, übel gemißhandelt und zerzaust, aus den

Händen zu reißen. Sie brachten ihn nach dem Rathause, wohin ihm viele von denen

nachfolgten, die sich für beleidigt hielten. Wie sie hörten, daß man ihn als

einen Beutelschneider eingezogen hatte, glaubten sie, sie könnten ihn nicht

besser an den Galgen bringen als durch ähnliche Beschuldigungen, und ein jeder

fing an zu schreien, er sei auch von ihm bestohlen worden. Wie dies der Richter

hörte, der ein gestrenger Mann war, ließ er ihn gleich ins heimliche Verhör

bringen und fing an, ihn zu befragen. Martellino antwortete ihm mit lauter

Scherzreden und schien sich aus seiner Verhaftung nichts zu machen, worüber der

Richter aufgebracht ward, ihn auf die Folter spannen und ihm einige tüchtige

Hiebe geben ließ, um ihn zum Bekenntnis zu bringen und ihn dann hängen zu

lassen. Wie man ihn wieder aufstehen ließ, und der Richter ihn fragte, ob es

wahr sei, was man gegen ihn vorbrächte, und Martellino wohl merkte, daß das

bloße Leugnen ihn nicht retten würde, sprach er: "Mein Herr, ich bin bereit,

Euch die Wahrheit zu bekennen; fragt aber vorher einen jeden Eurer Ankläger,

wann und wo ich ihm seine Börse gestohlen habe, so will ich Euch hernach sagen,

was ich getan habe und was nicht."

Der Richter war es zufrieden und ließ einige von den Klägern rufen. Der eine

sagte, er hätte ihm vor acht Tagen, der andere vor vier und wieder ein anderer,

er hätte ihm heute seinen Beutel genommen. Wie dieses Martellino hörte, sprach

er: "Mein Herr, alle diese Menschen lügen in ihren Hals, und das kann ich Euch

leicht beweisen; denn wollte Gott, ich wäre so gewiß nie in Eure Stadt gekommen,

als ich bis vor wenigen Stunden meinen Fuß nicht hierher gesetzt habe und zu

meinem Unglück gleich bei meiner Ankunft hingegangen bin, den heiligen Leichnam

zu sehen, wobei man mich so abgedroschen hat, wie Ihr mich seht. Daß dieses wahr

sei, kann Euch der Torschreiber mit seiner Rolle beweisen, und auch mein

Hauswirt, wenn's nötig ist. Wenn Ihr demnach findet, daß ich Euch die Wahrheit

sage, so bitte ich Euch, mich nicht diesen gottlosen Lumpen zu Gefallen martern

und töten zu lassen."

Indem die Sache so stand und Marchese und Stecchi hörten, daß der Richter dem

Martellino hart zusetzte und ihn schon gefoltert hätte, ward ihnen bange, und

sie dachten: "Wir haben einen dummen Streich gemacht und bringen unsern

Kameraden aus der Pfanne auf die Kohlen." Sie eilten demnach geschwind zurück zu

ihrem Wirt und erzählten diesem den ganzen Verlauf der Sache. Er lachte über die

Geschichte und brachte sie zu einem gewissen Sandro Agolanti, der in Treviso

wohnte und viel bei dem Landesherrn galt, welchem er alles in gehöriger Ordnung

erzählte und nebst den andern ihn bat, mit der Lage des Martellino Mitleid zu

haben. Sandro mußte herzlich lachen, ging zu dem Herrn und erhielt von ihm, daß

nach Martellino gesandt würde, was auch geschah. Die Boten, die nach ihm

geschickt wurden, fanden ihn noch im Hemd, ganz angst und verzagt in den Händen

des Richters, der nichts von seiner Rechtfertigung hören wollte, sondern große

Lust hatte, ihn hängen zu lassen; daher er ihn auch durchaus nicht eher

herausgeben wollte, bis er gezwungen ward, es zu tun.

Wie Martellino vor den Herrn kam und ihm alles aufrichtig gestanden hatte, bat

er um nichts so angelegentlich als um die Gnade, ihn nur gleich gehen zu lassen,

weil er noch immer so lange glauben würde, den Strick um die Gurgel zu haben,

bis er wieder nach Florenz käme. Der Herr könnte sich des Lachens nicht mehr

enthalten und ließ einem jeden von den dreien ein Kleid geben.

So entgingen sie unverhofft einer großen Gefahr und zogen mit heiler Haut wieder

heim.

 

 

 




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