II. Die Heilige Schrift heute
Der augenblickliche Stand der Bibelwissenschaften
12 Daß sich die Lage
der biblischen Wissenschaft und ihrer Hilfsfächer in den letzten fünfzig Jahren
bedeutend geändert hat, kann jedermann unschwer wahrnehmen. Als Unser Vorgänger
das Rundschreiben “Providentissimus Deus“ herausgab, war, um anderes zu
übergeben, kaum der eine oder andere Ort in Palästina durch wissenschaftliche
Ausgrabungsarbeit erforscht. Heute dagegen sind derartige Forschungen viel
zahlreicher geworden und liefern uns, dank der strengeren Methode und der durch
Erfahrung vervollkommneten Technik, viel reichere und gesicherter Ergebnisse,
Wieviel Licht aus diesen Unternehmungen für eine richtigere und vollkommenere
Erklärung der biblischen Bücher gewonnen wird, weiß jeder Fachmann, wissen
alle, die diese Studien pflegen. Die Wichtigkeit dieser Forschungen wird noch
erhöht durch die vielfache Auffindung von Schriftdenkmälern, die zur Kenntnis
ältester Sprachen, Literaturen, Ereignisse, Sitten und Formen der
Gottesverehrung wesentlich beitragen. Von nicht geringerer Bedeutung ist heute
die so häufige Entdeckung und Untersuchung von Papyri, die die Kenntnis der
Literatur und der Einrichtungen des öffentlichen und privaten Lebens, besonders
der Zeit unseres Heilandes, erfolgreich gefördert haben. Fernerhin hat man alte
Handschriften der heiligen Bücher aufgefunden und sorgfältig veröffentlicht;
die Schrifterklärung der Kirchenväter ist allgemeiner und gründlicher
untersucht worden; die Sprechweise, Erzählungsart und Schreibweise der Alten
lässt sich durch ungezählte Beispiele beleuchten.
Neue Aufgaben für Erklärer und Priester
13 Alle diese
Ergebnisse, die unserer Zeit, nicht ohne besondere Absicht der göttlichen
Vorsehung, erzielt hat, laden sozusagen Erklärer der Heiligen Schrift ein und
mahnen sie, dieses strahlende, uns zuteil gewordene Licht freudig zu benutzen,
um Gottes Wort tiefer zu durchforschen, heller zu beleuchten und klarer
vorzulegen. Wenn wir, zu Unserem großen Troste, sehen, daß die Exegeten dieser
Einladung schon eifrig entsprochen haben, so ist das sicherlich nicht die
letzte und geringste Frucht des Rundschreibens „Providentissimus Deus“ Unseres
Vorgängers Leos XIII. er hat, dieses neue Aufblühen der Bibelwissenschaft
gewissermaßen vorausahnend, die katholischen Exegeten zur Arbeit gerufen und
ihnen in Weisheit die Arbeitsmethode vorgezeichnet. Daß die Arbeit nicht nur
unverdrossen fortgehe, sondern immer vollkommener und fruchtbarer werde, das
ist auch das Ziel dieses Unseres Rundschreibens: Wir wollen allen zeigen, was
noch zu tun übrig bleibt und in welchem Geiste die katholischen Exegeten heute
an ihr großes und erhabenes Amt gehen sollen, und Wir möchten den Arbeitern,
die eifrig im Weinberg des Herrn tätig sind, neue Begeisterung und neuen Mut zu
geben.
1. Die Benützung der Urtexte
Studium der biblischen Sprachen
14 Dem katholischen
Exegeten, der sich mit dem Verständnis und der Erklärung der Heiligen Schrift
befasst, haben schon die Kirchenväter, besonders Augustinus, das Studium der
alten Sprachen und die Heranziehung der Urtexte ans Herz gelegt21. So wie
aber damals die wissenschaftlichen Verhältnisse lagen, kannten die hebräische
Sprache nur wenige, und auch sie nur unvollkommen. Im Mittelalter, als die
scholastische Theologie in hoher Blüte stand, hatte seit langem auch die
Kenntnis des Griechischen im Abendland so abgenommen, dass selbst die großen
Lehrer der damaligen Zeit für die Erklärung der Heiligen Bücher ausschließlich
auf die lateinische Übersetzung, die sogenannte Vulgata, angewiesen waren. In
unseren Tagen hingegen ist nicht nur das Griechische, das seit der Zeit der
humanistischen Renaissance zu neuem Leben erstanden ist, fast allen Kennern des
Altertums und der Literatur vertraut, sondern auch die Kenntnis des Hebräischen
und anderer orientalischer Sprachen ist unter den Gelehrten weit verbreitet.
Ferner steht zur Erlernung dieser Sprachen heute eine solche Menge von
Hilfsmitteln zur Verfügung, dass der Bibelerklärer dem Vorwurf der
Leichtfertigkeit und Fahrlässigkeit nicht entgehen könnte, wenn er sich durch
Vernachlässigung des Sprachenstudiums den Weg zu den Urtexten verschlösse.
Autorität des Urtextes
15 Ist es doch Pflicht
des Exegeten, auch das Kleinste, das unter der Eingebung des Heiligen Geistes
aus der Feder des heiligen Schriftstellers geflossen ist, mit größter Sorgfalt
und Ehrfurcht aufzugreifen, um dessen Gedanken möglichst tief und vollständig
zu erfassen. Daher soll er gewissenhaft daran arbeiten, sich eine immer größere
Kenntnis der biblischen und auch anderen orientalischen Sprachen anzueignen,
und seine Schriftauslegung durch alle die Hilfsmittel führen, die die
verschiedenen Zweige der Philologie bieten. Das wollte seinerzeit der heilige
Hieronymus mit Sorgfalt leisten, soweit der damalige Stand der Sprachenkunde es
erlaubte; das erstrebten auch mit unermüdlichem Eifer und mit nicht geringem
Erfolg nicht wenige der großen Exegeten des 16. und 17. Jahrhunderts, obwohl
damals die Kenntnis der Sprachen noch viel geringer war als heute. Nach den
gleichen Grundsätzen muß man darum den Urtext erklären: vom heiligen
Schriftsteller selbst geschrieben, hat er höhere Autorität und größeres Gewicht
als jede, sei es auch die beste, Überlieferung aus alter oder neuer Zeit. Diese
Aufgabe lässt sich um so leichter und erfolgreicher leisten, wenn der Exeget
mit der Sprachenkenntnis auch einen gründliche Schulung in der Textkritik
verbindet.
Wichtigkeit der Textkritik
16 Wieviel Bedeutung
der Textkritik beizumessen ist, sagt zutreffend schon Augustinus,
der unter den Regeln, die er für das Bibelstudium
aufstellt, an erster Stelle die Sorge für einen kritisch richtigen Text
erwähnt. „Der Verbesserung der Handschriften“, sagt der berühmte Kirchenlehrer,
„muß die wachsame Sorge derer, die die Heilige Schrift kennen wollen, in erster
Linie gelten: hinter den verbesserten Handschriften müssen die unverbesserten
zurücktreten“22. Diese Wissenschaft der Textkritik, die bei der
Herausgabe von Profanschriften anerkennenswert und erfolgreich angewandt wird,
betätigt sich heute mit Fug und Recht auch an den heiligen Büchern, gerade
wegen der Ehrfurcht, die wir dem Worte Gottes schulden. Ihre Aufgabe ist es ja,
den heiligen Text, soweit möglich, in vollkommenster Weise wiederherzustellen,
ihn von den Verderbnissen, die aus der Unzuverlässigkeit der Abschreiber
stammen, zu reinigen und ihn tunlichst zu befreien von Zusätzen und Lücken, von
Umstellungen und Wiederholungen und von anderen derartigen Fehlern, die sich
bei jahrhundertlanger Überlieferung in die Schriftwerke einzuschleichen
pflegen. Die Textkritik, die manche Gelehrte vor einigen Jahrzehnten noch ganz
willkürlich angewandt haben, nicht selten so, dass man hätte meinen können, sie
täten es, um ihre vorgefaßten Ansichten in den heiligen Text hineinzutragen,
hat heute – es ist kaum nötig, dies zu bemerken – eine derartige Festigkeit und
Sicherheit in ihren Regeln erreicht, dass sie ein treffliches Werkzeug geworden
ist, um die Heilige Schrift reiner und genauer herauszugeben, und dass sich
anderseits jeder Mißbrauch leicht feststellen lässt.
Textkritische Ausgaben
17 Es braucht hier
auch nicht daran erinnert zu werden – allen, die sich mit dem Studium der
Heiligen Schrift befassen, ist es ja bekannt und geläufig -, wie hoch die
Kirche von Anfang an bis heute die textkritischen Studien gehalten hat. Heute,
nach dieses Fach zu so hoher Vollkommenheit gelangt ist, ist es daher für die
Vertreter der Bibelwissenschaft eine ehrenvolle, wenn auch nicht immer leichte
Pflicht, mit allen Mitteln dafür zu sorgen, dass katholischerseits möglichst
bald kritische Ausgaben sowohl der biblischen Bücher als auch der alten
Übersetzungen hergestellt werden, die mit vollster Ehrfurcht gegen den heiligen
Text eine gewissenhafte Beobachtung aller kritischen Regeln verbinden. Diese
langwierige Arbeit ist nicht nur notwendig, um die aus göttlicher Eingebung
stammenden Heiligen Schriften richtig zu verstehen; sie ist auch – dies mögen
alle wissen – eine gebieterische Forderung der Dankbarkeit, die wir Gottes
Vorsehung dafür schulden, seiner Herrlichkeit gesandt hat.
Vulgata, Sinn des Dekretes des Konzils von Trient
18 In der angedeuteten
Verwendung des kritisch bearbeiteten Urtextes soll niemand einen Verstoß gegen
die weisen Vorschriften des Konzils von Trient über die lateinische Vulgata
sehen23. Denn, wie
aus den Geschichtsquellen feststeht, erhielten die Konzilspräsidenten den
Auftrag, im Namen des heiligen Konzils den Papst zu bitten – wie sie es auch
wirklich taten -, es möchte zunächst ein nach Möglichkeit verbesserter lateinischer,
dann aber auch ein griechischer und ein hebräischer Text der heiligen Schrift
hergestellt24 und seinerzeit zum Nutzen der Heiligen Kirche Gottes
herausgegeben werden. Wenn diesem Wunsch damals wegen der schwierigen
Zeitverhältnisse und sonstiger Hindernisse nicht voll entsprochen werden
konnte, so wird er sich heute, so hoffen Wir zuversichtlich, durch die
Zusammenarbeit der katholischen Gelehrten um so vollkommener und weitgehender
erfüllen lassen. Wenn das Trienter Konzil wollte, dass die Vulgata diejenige
lateinische Übersetzung sei, „die alle als authentische gebrauchen“, so gilt
diese Bestimmung, wie jedermann weiß, nur für die lateinische Kirche, und zwar
für den offiziellen Gebrauch der Heiligen Schrift; die Autorität und Bedeutung
der Urtexte mindert sie, das steht außer Zweifel, in keiner Weise. Es handelte
sich damals ja nicht um die Urtexte, sondern um die in jener Zeit umlaufenden
lateinischen Übersetzungen; unter diesen, so ordnete das Konzil mit Recht an,
sollte sie den Vorzug besitzen, die „durch viele Jahrhunderte langen Gebrauch
in der Kirche selbst bewährt ist“.
Neue Übersetzungen
19 Diese überragende
Autorität der Vulgata, ihre sogenannte Authentizität, ist also vom Konzil nicht
in erster Linie aus kritischen Gründen behauptet worden, sondern wegen der
rechtmäßigen, viele Jahrhunderte dauernde Verwendung in den Kirchen. Diese
Verwendung beweist, wie die Kirche sie verstanden hat und versteht, in
Glaubens- und Sittenfragen frei ist von jedem Irrtum, so dass sie, wie die Kirche selbst bezeugt und
bestätigt, in Disputationen, Vorlesungen und Predigten sicher und ohne Gefahr
eines Irrtums verwendet werden
kann. Diese Authentizität ist also nicht in erster Linie eine kritische,
sondern vielmehr eine juridische zu nennen. Daher verbietet die Autorität der
Vulgata in Fragen der kirchlichen Lehre keineswegs, eben diese Lehre auch aus
den Urtexten zu beweisen und zu bestätigen, ja, sie erfordert es beinahe;
ebenso wenig verwehrt sie, allenthalben die Urtexte zu Hilfe zu nehmen, um den
richtigen Sinn der Heiligen Schrift überall mehr und mehr zu finden und zu
erklären. Das Dekret des Trienter Konzils verbietet auch nicht, zum Gebrauch
und Nutzen der Gläubigen und zum leichteren Verständnis des Wortes Gottes
Übersetzungen in der Muttersprache anzufertigen, auch aus den Urtexten, wie es,
mit Billigung der kirchlichen Autorität, schon vielerseits, wie Wir wissen,
löblicherweise geschehen ist.
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