2. Die Erklärung der Heiligen Schrift
Der buchstäbliche Sinn
20 Mit der Kenntnis
der alten Sprachen und mit den Hilfsmitteln der Textkritik trefflich gerüstet,
soll der katholische Exeget an die Aufgabe herangehen, die von allem ihm
gestellten die höchste ist, an die Auffindung und Erklärung des wahren Sinnes
der heiligen Bücher. Dabei mögen die Schrifterklärer sich gegenwärtig halten,
dass es ihre erste und angelegentliche Sorge sein muß, klar zu erkennen uns zu
bestimmen, welches der Literalsinn der biblischen Worte ist. Diesen Literalsinn
der Worte sollen sie mit aller Sorgfalt durch die Kenntnis der Sprachen
ermitteln, unter Zuhilfenahme des Zusammenhangs und des Vergleichs mit
ähnlichen Stellen – Hilfsmittel, die man alle auch bei der Erklärung profaner
Schriften heranzuziehen pflegt, damit der Gedanke des Schriftstellers klar zum
Ausdruck kommt.
Der theologische Lehrgehalt
21 Die Erklärer der
Heiligen Schrift mögen sich aber daran erinnern, dass es sich hier um das
inspirierte Gotteswort handelt, das Gott selbst der Kirche zur Hut und zur
Erklärung anvertraut hat, und deshalb mit nicht weniger Sorgfalt den
Erklärungen und Bestimmungen des kirchlichen Lehramts Rechnung tragen, sowie
auch den Auslegungen der heiligen Väter und der „Analogie des Glaubens“, wie
Leo XIII. in seinem Rundschreiben „Providentissimus Deus“ weise bemerkt hat25. Mit
besonderem Eifer aber sollen sie darauf bedacht sein, dass sie nicht bloß – wie
es zu Unserem Bedauern in einigen Kommentatoren der Fall ist – die Dinge
erläutern, die der Geschichte, Archäologie, Philologie und anderen derartigen
Wissenschaften angehören. Gewiß sollen sie derartiges, soweit es der Exegese
nützlich ist, in zweckdienlicher Weise vorbringen; aber vor allem müssen sie
zeigen, welches der theologische Lehrgehalt der einzelnen Bücher und Texte in
Glaubens- und Sittenfragen ist. Dadurch soll ihre Schrifterklärung nicht bloß
den Theologen bei der Darlegung und dem Beweis der Glaubenslehren von Nutzen
sein, sondern ebenso den Priestern bei der Verkündigung der christlichen Lehre
vor dem Volke dienen und schließlich allen Gläubigen dazu behilflich sein, ein
heiliges, eines CHRISTEN würdiges Leben zu führen.
Fruchtbarkeit einer solchen Erklärung
22 Wenn die katholischen
Exegeten eine derartige Schriftauslegung geben, die, wie gesagt, vor allem
theologischer Natur ist, werden sie die wirksam zum Schweigen bringen, die
immer wieder behaupten, sie fänden in den Bibelkommentaren kaum etwas, was den
Geist zu Gott erhebe, die Seele nähre und das innere Leben fördere, und darum
geltend machen, sie müssten ihre Zuflucht nehmen zu einer geistigen und, wie
sie sagen, mystischen Erklärung. Wie wenig diese Leute mit einer solchen
Behauptung Recht haben, zeigt gerade die Erfahrung der vielen, die, Gottes Wort
immer wieder erwägend und betrachtend, ihre Seele vervollkommnet und sich mit
warmer Liebe zu Gott erfüllt haben; das gleiche zeigen klar auch die
beständigen Anweisungen der Kirche und die Mahnungen der angesehensten Lehrer.
Der geistliche Sinn
23 Gewiß ist nicht
jeder geistige Sinn aus der Heiligen Schrift ausgeschlossen. Aussprüche und
Geschehnisse des Alten Testamentes hat Gott in Seiner Weisheit so angeordnet
und eingerichtet, dass das Vergangene geistigerweise das vorausbedeutete, was
im Neuen Bund der Gnade geschehen sollte. Wie darum der Exeget den Literalsinn
der Worte, den der heilige Schriftsteller beabsichtigte und ausdrückte,
auffinden und erklären muß, so auch den geistigen, sofern nur gebührend
feststeht, dass Gott diesen Sinn wirklich gewollt hat. Denn nur Gott konnte
diesen geistigen Sinn kennen und uns offenbaren. Diesen Sinn zeigt und lehrt
uns in den Evangelien der göttliche Heiland selbst; ihn verkünden auch, nach
dem Beispiel des Meisters, die Apostel in Wort und Schrift; ihn zeigt die
ununterbrochene Überlieferung der Kirche; ihn beweist endlich die uralte
Verwendung in der Liturgie, wo immer das bekannte Wort: „Das Gesetz des Betens
ist das Gesetz des Glaubens“ in berechtigter Weise angewandt werden kann.
Richtige Anwendung des geistlichen Sinnes
24 Diesen geistigen
Sinn also, den Gott selbst gewollt und angeordnet hat, sollen die katholischen
Exegeten mit der Sorgfalt aufhellen und darlegen, die die Würde des Wortes
Gottes fordert; andere übertragene Bedeutungen dagegen als echten Sinn der
Heiligen Schrift vorzutragen, mögen sie sich gewissenhaft hüten. Gewiß kann,
besonders bei der Ausübung des Predigtamtes, ein weitgehender, mit übertragenen
Wortbedeutungen arbeitender Gebrauch des heiligen Textes zur Erläuterung und Empfehlung der Glaubens-
uns Sittenlehren dienlich sein, wenn dabei nur das Maß und Ziel beobachtet
werden, aber diese Verwendung der Heiligen Schrift ist ihr, was man nie
vergessen darf, gewissermaßen äußerlich und zusätzlich und dazu, besonders
heute, nicht ohne Gefahr; denn die Gläubigen, vor allem, wenn sie in den
heiligen und profanen Wissenschaften gebildet sind, wollen wissen, was Gott
selbst in der Heiligen Schrift uns lehrt, nicht was ein beredter Prediger oder
Schriftsteller mit geschickter Verwendung biblischer Worte vorträgt. „Das
lebendige Wort Gottes, wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert,
durchdringend, bis es Seele und Geist, Mark und Bein scheidet, Richter über die
Gedanken und die Gesinnungen des Herzens (Hebr. 4,12), bedarf keineswegs der
Künstelei oder der menschlichen Zustutzung, um die Seele zu rühren und zu
erschüttern. Die heiligen Bücher, durch die Eingebung des göttlichen Geistes
verfasst, sind aus sich selbst überreich an echtem Sinn; mit göttlicher Kraft
erfüllt, sind sie aus sich selbst mächtig; mit himmlischer Schönheit
geschmückt, leuchten und strahlen sie aus sich selbst, wenn sie nur vom
Schrifterklärer so richtig und genau ausgelegt werden, dass alle Schätze der
Weisheit und Einsicht, die sie enthalten, zutage gefördert werden.
Studium der Väter und großen Erklärer
25 Bei der Erfüllung
dieser seiner Aufgabe bietet dem katholischen Exegeten eine treffliche Hilfe
das Studium der Werke, in denen die heiligen Väter, die Lehrer der Kirche und
die hervorragenden Schrifterklärer der Vorzeit die heiligen Bücher erklärt
haben. An profaner Bildung und an Sprachenkenntnis kamen diese alten
Schriftausleger bisweilen unseren heutigen Exegeten zwar nicht gleich; aber
kraft der Aufgabe, die Gott ihnen in der Kirche gestellt hat, zeichnen sie sich
aus durch gemütstiefe Schau der himmlischen Dinge und durch wunderbare
Geistesschärfe, wodurch sie weit eindringen in die Tiefen des göttlichen Wortes
und alles herausarbeiten, was dazu dienen kann, Christi Lehre zu beleuchten und
die Heiligkeit des Lebens zu fördern. Es ist bedauerlich, dass diese kostbaren
Schätze des christlichen Altertums manchen unserer heutigen Schriftsteller zu
wenig bekannt sind, und dass die Vertreter der Geschichte der Exegese noch
nicht alles geleistet haben, was zur gehörigen Erforschung und rechten
Einschätzung eines o wichtigen Gebietes notwendig ist. Möchten sich doch recht
viele Gelehrte finden, die die Verfasser und die Werke der katholischen
Schrifterklärung eifrig studieren, die fst unermesslichen von ihnen gesammelten
Schätze heben und so wirksam dazu beitragen, dass mehr und mehr zutage tritt,
wie tief die göttliche Lehre der Heiligen Bücher durchschaut und wie herrlich
sie diese erläutert haben, und dass sich auch die heutigen Schriftausleger
daran ein Beispiel nehmen und nützlichen Stoff daraus schöpfen. Auf diese Weise
wird schließlich eine glückliche und fruchtbare Verbindung zustande kommen
zwischen der Lehre und geistlichen Salbung der Alten und der größeren Bildung
und vollkommeneren Methode der Neueren, eine Verbindung, die neue Früchte
zeitigen wird auf dem Feld der biblischen Bücher, das sich nie genug
bearbeiten, nie vollständig abernten lässt.
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