3. Neue Aufgaben der Schrifterklärung
Neue Forschungen
26 Daß dabei auch
unsere Zeit zur tieferen und genaueren Auslegung der Heiligen Schrift etwas
beitragen kann, lässt sich mit vollem Recht hoffen. Denn nicht wenige Fragen,
besonders auf geschichtlichem Gebiet, sind von den Erklärern der früheren
Jahrhunderte kaum oder nur ungenügend erörtert: fehlten ihnen doch fast alle
Kenntnisse, die zu einer genaueren Behandlung solcher Gegenstände notwendig
sind. Wie schwierig und sozusagen unzugänglich gewisse Punkte selbst für die
heiligen Väter waren, zeigen, um anderes zu übergehen, die wiederholten Ansätze
zur Erklärung der ersten Kapitel der Genesis, die manche von ihnen machten,
ebenso wie die mehrmaligen Versuche des heiligen Hieronymus, die Psalmen so zu
übersetzen, dass deren Literalsinn oder Wortsinn klar zutage träte. Bei anderen
biblischen Büchern oder Stellen hat erst die Neuzeit die Schwierigkeiten
wahrgenommen, nachdem eine eindringendere Kenntnis des Altertums neue Fragen
aufgeworfen hatte, die einen tiefen Einblick in die Sachlage geben. Zu Unrecht
behaupten daher Leute, die die Lage der Bibelwissenschaft nicht genau kennen,
dem katholischen Exegeten unserer Tage bleibt nichts hinzuzufügen zu dem, was
das christliche Altertum geleistet habe; im Gegenteil, unsere Zeit hat gar
vieles vorgebracht, was einer neuen Untersuchung und einer neuen Prüfung bedarf
und den heutigen Exegeten nicht wenig zu eifrigem Studium anspornt.
Die Eigenart des Schriftstellers
27 Wenn indes unsere
Zeit neue Fragen aufwirft und neue Schwierigkeiten bringt, so bietet sie, der
Schriftauslegung auch neue wertvolle Hilfsmittel. In dieser Hinsicht dürfte die
Tatsache besonders erwähnenswert sein, dass die katholischen Theologen im Anschluß
an die Lehre der heiligen Väter und vor allem des Engelgleichen und Allgemeinen
Lehrers, die Natur und die Wirkungen der biblischen Inspiration genauer und
vollkommener erforscht und vorgelegt haben, als es in den vergangenen
Jahrhunderten der Fall war. Sie gehen dabei von dem Gedanken aus, dass der
heilige Schriftsteller bei der Abfassung des biblischen Buches „Organ“ oder
Werkzeug des Heiligen Geistes ist, und zwar ein beseeltes und vernünftiges
Werkzeug, und schließen daraus mit Recht, dass unter dem göttlichen Einfluß
seine Kräfte und Fähigkeiten so anwendet, „dass man au der durch seine Arbeit
entstandenen Schrift mit Leichtigkeit die Eigenart und sozusagen die
charakteristischen Merkmale und Züge des menschlichen Schriftstellers“26 leicht
erkennen kann. Der Exeget muß daher mit aller Sorgfalt, ohne eine Erkenntnis zu
vernachlässigen, die die neuere Forschung gebracht hat, festzustellen suchen,
welches die Eigenart und Lebenslage des biblischen Schriftstellers war, in
welcher Zeit er lebte, welche mündlichen und schriftlichen Quellen er benutzte,
welcher Redegattung er sich bediente. Auf diese Weise wird er vollkommener
erkennen, wer der biblische Schriftsteller war und was er mit seinem Werke
beabsichtigte. Es kann ja keinem entgehen, dass die wichtigste Regel für die
Auslegung die ist, dass man genau bestimme, was der Schriftsteller zu sagen
beabsichtigte. So mahnt schon der heilige Athanasius: „Hier muß man, wie es an
allen anderen Stellen der Heiligen Schrift zu geschehen hat, darauf achten, aus
welchem Anlaß der Apostel redet; man muß genau und gewissenhaft beachten, wer
der Verfasser ist und welches die Sache, derentwegen er geschrieben hat, damit
man nicht aus Unwissenheit oder Missverständnis vom richtigen Sinn abweicht.“27
Die literarische Art der Zeit und des Landes
28 Der Literalsinn
einer Stelle liegt indes bei den Worten und Schriften altorientalischer Autoren
oft nicht so klar zutage, wie bei unseren heutigen Schriftstellern. Was die
alten Orientalen mit ihren Worten ausdrücken wollten, lässt sich nicht durch
die bloßen Regeln der Grammatik und Philologie oder allein aus dem Zusammenhang
bestimmen; der Exeget muß sozusagen im Geiste zurückkehren in jenen fernen
Jahrhunderte des Orients und mit Hilfe der Geschichte, der Archäologie, der
Ethnologie und anderer Wissenschaften genau bestimmen, welche literarischen
Arten die Schriftsteller jener alten Zeit anwenden wollten und in Wirklichkeit
anwandten. Die alten Orientalen bedienen sich nämlich zum Ausdruck ihrer
Gedanken nicht immer der gleichen Formen und Sprechweisen wie wir, sondern
vielmehr derjenigen, die bei den Menschen ihrer Zeit und ihres Landes üblich
waren. Welches diese Redeformen waren, kann der Exeget nicht „a priori“
feststellen, sondern nur mit Hilfe einer sorgfältigen Durchforschung der
altorientalischen Literatur. Diese Durchforschung nun, die in den letzten
Jahrzehnten mit größerer Sorgfalt und Aufmerksamkeit gemacht worden ist als
früher, hat klarer gezeigt, welche Redegattungen in der alten Zeit für die
dichterische Schilderung, für die Darstellung der Regeln und Gesetze des Lebens
sowie für die Erzählung geschichtlicher Tatsachen und Ereignisse verwendet
wurden. Diese Durchforschung hat gleicherweise klar erwiesen, dass das israelitische
Volk in der Geschichtsschreibung die anderen alten Völker des Orients bedeutend
übertrifft hinsichtlich des Alters der Berichte, wie auch durch die Treue in
der Wiedergabe der Tatsachen, ein Vorzug, der sicherlich seinen Ursprung hat im
Charisma des göttlichen Inspiration und in der besonderen religiösen
Zielsetzung der biblischen Geschichtsdarstellung.
Das Wort Gottes auf menschlicher Zunge
29 Wer einen richtigen
Begriff von der biblischen Inspiration hat, wird sich nicht wundern, dass
trotzdem auch bei den biblischen Schriftstellern, wie bei den anderen alten
Autoren, gewisse Formen der Darstellung und Erzählung vorkommen, gewisse
Eigenheiten, die besonders den semitischen Sprachen angehören, Darstellungen,
die man „angenähert“ nennen könnte, gewisse hyperbolische Redeweisen, ja
bisweilen paradoxe Ausdrücke, die dazu dienen, die Dinge dem Geiste besser
einzuprägen. Ist ja doch den heiligen Büchern keine jener Redeformen fremd,
deren sich die menschliche Sprache bei den Alten, besonders im Orient, zum
Ausdruck der Gedanken zu bedienen pflegte, allerdings unter der Bedingung, dass
die angewandte Redegattungen keiner Weise der Heiligkeit und Wahrhaftigkeit
Gottes widerspricht. So sagt schon, scharfsinnig wie immer, der heilige Thomas:
„In der Heiligen Schrift wird das Göttliche uns vorgelegt in der Weise, wie es
die Menschen zu tun pflegen28.“ Wie nämlich das wesenhafte Wort Gottes den Menschen in
allem ähnlich geworden ist, „die Sünde
ausgenommen“ (Hebr. 4,15), so sind auch Gottes Worte, durch menschliche Zungen
ausgedrückt, in allem der menschlichen Sprache ähnlich geworden, den Irrtum ausgenommen. Diese aus der
Vorsehung Gottes stammende „Herablassung“ hat schon der heilige Johannes
Chrysostomus hoch gefeiert und ihr Vorhandensein in den Heiligen Büchern immer
wieder vermerkt.29
Besseres Verständnis und oft Lösung der Schwierigkeiten
30 Um den heutigen
Erfordernissen der Bibelwissenschaft zu entsprechen, muß deshalb der
katholische Exeget bei der Auslegung der Heiligen Schrift und beim Nachweis
ihrer Irrtumslosigkeit auch dieses Hilfsmittel in kluger Weise benutzen zu
sehen, was die Redegattung oder literarische Art, die der heilige
Schriftsteller gebraucht, für die richtige und zutreffende Erklärung bedeutet,
und er soll überzeugt sein, dass er diese Seite seiner Aufgabe ohne großen
Nachteil für die katholische Exegese nicht vernachlässigen darf. Nicht selten
nämlich – um nur dies eine zu berühren -, wenn manche Leute immer wieder den
Vorwurf erheben, die biblischen Schriftsteller seien von der geschichtlichen
Treue abgewichen oder hätten die Tatsache weniger genau berichtet, handelt es
sich offensichtlich nur um die gebräuchlichen, den Alten eigenen Rede- und
Erzählungsarten, die man im gegenseitigen Verkehr allenthalben anzuwenden
pflegte und die anerkanntermaßen im täglichen Umgang als erlaubt betrachtet
wurden. Die Billigkeit und Gerechtigkeit des Urteils verlangt daher, dass
derartige Ausdrucksweisen, wenn sie sich in den für die Menschen nach
Menschenweise ausgedrückten Wort Gottes finden, ebenso wenig des Irrtums geziehen werden, als wenn sie
im tagtäglichen Leben gebraucht werden. Kennt man also diese Rede- und
Schreibarten der Alten und beurteilt man sie richtig, so lassen sich viele Einwürfe
widerlegen, die gegen die Wahrhaftigkeit und geschichtliche Treue der Heiligen
Bücher erhoben werden. Ebenso nützlich ist ein Studium dieser Frage auch für
das tiefere und klarer Verständnis der Gedanken des heiligen Schriftstellers.
Studium der Alterswissenschaften
31 Unsere Vertreter
der Bibelwissenschaft sollen also auch in diesem Punkt gebührende
Aufmerksamkeit schenken und nicht unberücksichtigt lassen, was die Archäologie,
die alte Geschichte und die Geschichte der alten Literatur an Neuem gebracht
hat und was dazu dient, dass man die Absicht der alten Schriftsteller und ihre
Art uns Weise zu denken, zu erzählen und zu schreiben, richtig erfasst. In
dieser Hinsicht müssen auch die katholischen Laien daran denken, dass sie nicht
nur einen nützlichen Beitrag zum profanen Wissen leisten, sondern sich auch um
das Christentum höchst verdient machen, wenn sie sich mit allem gebührenden
Eifer und Fleiß der Erforschung und Untersuchung des Altertums widmen und an
der Lösung solcher bisher nicht geklärter Fragen nach Kräften mithelfen. Jede
menschliche Erkenntnis, auch wenn sie nicht religiösen Charakters ist, hat
schon in sich ihre eigene Würde und Hoheit – ist sie doch eine endliche
Anteilnahme an Gottes unendlicher Erkenntnis -; wenn sie aber dazu verwendet
wird, Fragen die Gott oder Göttliches betreffen, heller zu beleuchten, so
erhält sie dadurch eine neue, höhere Würde und Weihe.
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