4. Die Behandlung der schwierigen Fragen
Gelöste Schwierigkeiten
32 Die oben erwähnte
eingehendere Erforschung des alten Orients, das genauere Studium des Urtextes
der Heiligen Schrift, die ausgedehntere und vollkommenere Kenntnis der Sprachen
der Bibel und des Orients im allgemeinen hatten, mit Gottes Hilfe,
glücklicherweise zur Folge, dass nunmehr nicht wenige der Fragen völlig geklärt
sind, die zur Zeit Unseres Vorgängers Leo XIII. von Kritikern, die außerhalb
der Kirche standen oder ihr sogar feindselig gesinnt waren, gegen die Echtheit,
das Alter die Unverfälschtheit und die geschichtliche Zuverlässigkeit der
biblischen Bücher vorgebracht wurden. Die katholischen Exegeten haben die
gleichen wissenschaftlichen Waffen, die die Gegner nicht selten missbrauchten,
in der richtigen Weise gebraucht und so Erklärungen vorgelegt, die einerseits
mit der katholischen Lehre und der echten alten Überlieferung im Einklang
stehen, anderseits den Schwierigkeiten gewachsen sind, welche die neueren
Forschungen und Funde brachten oder die das Altertum unserer Zeit ungelöst
hinterlassen hat. So ist es gekommen, dass das Vertrauen auf die Autorität und
die geschichtliche Treue der Bibel, das durch die vielen Anfechtungen bei
manchen erschüttert war, heute bei den Katholiken wiederhergestellt ist; ja, es
fehlt sogar auch unter den Nichtkatholiken nicht an Schriftstellern, die durch
ruhige und sachliche Forschung dazu geführt worden sind, die neueren Ansichten
aufzugeben und, wenigstens da und dort, zu den älteren Anschauungen
zurückzukehren. Diese Änderung der Lage ist zu einem großen Teil der
unverdrossenen Arbeit zu verdanken, mit der sich die katholischen
Schriftausleger, unbeirrt durch Schwierigkeiten und Hindernisse aller Art, aus
voller Kraft bemühten, die Ergebnisse der heutigen gelehrten Forschung auf dem
Gebiet der Archäologie, der Geschichte und der Sprachwissenschaft für die
Lösung der neuen Fragen nutzbar zu machen.
Nicht gelöste Schwierigkeiten
33 Es braucht sich
indes niemand zu wundern, dass bis jetzt noch nicht alle Schwierigkeiten restlos
bereinigt sind, sondern daß es auch heute noch Fragen gibt, die den
katholischen Exegeten nicht wenig zu schaffen machen. Bei dieser Lage der Dinge
darf man sicherlich nicht den Mut verlieren; man darf auch nicht vergessen,
dass es in der menschlichen Wissenschaft nicht anders geht als in der Natur;
die Unternehmungen wachsen langsam, und die Frucht kann man erst nach vieler
Arbeit pflücken. So ging es mit manchen Fragen, die in der Vergangenheit
ungelöst und unbeantwortet geblieben waren und erst in der Gegenwart durch den
Fortschritt des Wissens eine glückliche Erledigung gefunden haben. Daher steht
zu hoffen, dass auch die Schwierigkeiten, die heute noch ganz verwickelt und
völlig undurchdringlich scheinen, im Lauf der Zeit durch unablässige Arbeit endgültig
geklärt werden. Wenn die ersehnte Lösung lange ausbleibt und der glückliche
Erfolg nicht uns beschieden ist, sondern vielleicht erst späteren Geschlechtern
zuteil wird, so kann sich niemand darüber grämen, denn billigerweise gilt auch
für uns, was die Väter, vor allem Augustinus30, zu ihrer
Zeit betonten: Gott habe in den von ihm inspirierten Heiligen Büchern
absichtlich Schwierigkeiten gelassen, damit wir zu eifrigem Studium und
Forschen angespornt und, der Grenzen unseres Geistes uns heilsam bewusst, in
der geziemenden Demut geschult werden. Darum wäre es auch nicht zu verwundern,
wenn sich für die eine oder andere Frage überhaupt nie eine voll befriedigende
Antwort finden ließe; denn es handelt sich bisweilen um dunkle Dinge, die von
der Gegenwart und von der Erfahrung der Jetztzeit allzuweit abliegen, und auch
die Exegese darf wie andere bedeutende Wissenschaften ihre Geheimnisse haben,
die unserem Geist unzugänglich bleiben und durch keinerlei Bemühen enträtselt
werden können.
Mühe um rechte Lösungen
34 Durch die Sachlage
darf sich jedoch der katholische Exeget, der eine tätige und starke Liebe zu
seinem Fach hat und der heiligen Mutter Kirche aufrichtig ergeben ist,
keineswegs davon abhalten lassen, die schwierigen, bisher ungelösten Fragen
immer und immer wieder anzugreifen, nicht nur um die Einwendungen der Gegner zu
widerlegen, sondern vor allem, um eine positive Lösung herauszuarbeiten, eine
Lösung, die mit der Lehre der Kirche im Einklang steht, besonders mit der
Überlieferung von der vollen Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift, während sie
anderseits den gesicherten Ergebnissen der Profanwissenschaften gebührend
Rechnung trägt. Die Bemühungen dieser tüchtigen Arbeiter im Weinberg des Herrn
soll man nicht nur mit Billigkeit und Gerechtigkeit, sondern auch mit Liebe
beurteilen. Dieser Pflicht mögen alle anderen Söhne der Kirche eingedenk sein
und sich von einem wenig klugen Eifer fernhalten, da der meint, alles, was neu
ist, schon deshalb, weil es neu ist, bekämpfen oder verdächtigen zu müssen. Bei
den Anordnungen und Gesetzen, die die Kirche gegeben hat, handelt es sich – das
mögen sie sich besonders gegenwärtig halten – um die Glaubens- und Sittenlehre,
und unter den vielen Dingen, die in der Heiligen Schrift, in den Gesetztes- und
Geschichtsbüchern, in der Weisheits- und Prophetenliteratur enthalten sind,
finden sich nur wenige, deren Sinn von der kirchlichen Autorität erklärt worden
ist, und auch die Punkte, in denen bei den heiligen Vätern Übereinstimmung
herrscht, sind nicht viel zahlreicher. Daher bleiben viele, und zwar ganz
wichtige Fragen, bei deren Erörterung und Erklärung die katholischen Exegeten
ihren Scharfblick und ihr Talent in voller Freiheit betätigen können und
müssen, auf daß ein jeder nach Kräften beitrage zum allgemeinen Nutzen, zu
immer wachsendem Fortschritt der kirchlichen Wissenschaft und zur Verteidigung
und Ehre der Kirche. Diese echte Freiheit der Kinder Gottes, die einerseits
treu festhält an der Lehre der Kirche, anderseits jeden Beitrag der
Profanwissenschaften dankbar als Gottesgabe annimmt und verwertet, getragen und
gehalten von der Liebe aller, ist Bedingung und Quelle alles wirklichen
Erfolges und alles dauerhaften Fortschritts der katholischen Wissenschaft.
Trefflich äußert sich darüber Unser unvergesslicher Vorgänger Leo XIII., wenn
er sagt: „Nur wenn die Herzen einig und die Prinzipien sichergestellt sind,
darf man aus den verschiedenen Arbeiten vieler großer Fortschritte in dieser
Wissenschaft erhoffen31.“
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