5. Die Heilige Schrift und die Unterweisung der Gläubigen
Schwere Pflicht, den Schatz zu nützen
35 Es ist eine
gewaltige Arbeit, die die katholische Exegese während fast zwei Jahrtausenden
geleistet hat, damit das Wort Gottes, das den Menschen in der Heiligen Schrift
geschenkt worden ist, immer tiefer und vollkommener verstanden und stets
inniger geliebt werde. Wer diese Leistung betrachtet, wird sich unschwer davon
überzeugen, dass es für die Gläubigen, vor allem für die Priester, eine schwere
Pflicht ist, den Schatz, den die größten Geister in so vielen Jahrhunderten
gesammelt haben, nun auch ausgiebig und treu zu benutzen. Gott hat ja den
Menschen die Heiligen Bücher nicht gegeben, um ihre Neugierde zu befriedigen
oder um Arbeits- und Forschungsmaterial zu bieten, sondern wie der Apostel
bemerkt, damit die Heilige Schrift uns „unterweise zum Heil durch den Glauben
an Christus Jesus“ und „der Gottgeweihte Mensch vollkommen sei, ausgerüstet zu
jedem guten Werk“ (vgl. 2 Tim. 3,15.17).
Die Priester und die Heilige Schrift – Die biblische Predigt
36 Die Priester also,
denen die Sorge für das ewige Heil der Gläubigen übertragen ist, mögen zunächst
selbst die Heiligen Bücher in sorgfältigem Studium durchforschen und sie sich
durch Gebet und Betrachtung zu eigen machen; dann aber fallen sie die
himmlischen Reichtümer des göttlichen Wortes eifrig austeilen in Predigten,
Homilien und Ansprachen und die christliche Lehre durch Worte aus der Heiligen
Schrift bekräftigen und durch treffliche Beispiele aus der heiligen Geschichte,
besonders aus dem Evangelium Christi des Herrn, beleuchten. Bei all dieser
Tätigkeit mögen sie mit gewissenhafter Sorgfalt jene Akkomodationen meiden, die
nur aus persönlicher Willkür stammen und weit hergeholt sind – diese sind nicht
Gebrauch, sondern Missbrauch des Wortes Gottes -; sie sollen vielmehr alles o
beredt, so lichtvoll und klar vortragen, dass die Gläubigen nicht nur zur
rechten Lebensführung angespornt und begeistert, sondern auch mit tiefer
Verehrung für die Heilige Schrift erfüllt werden.
Bibelbewegung – Die Verbreitung der Heiligen Schrift –
Die Gottesdienstliche Verwendung – Biblische Konferenzen
37 Diese Verehrung sollen
sodann die Oberhirten der Sprengel bei den ihnen anvertrauten Gläubigen noch
ausdrücklicher von Tag zu Tag mehren und zu vervollkommnen trachten und alle
die Unternehmungen fördern, durch die apostolisch gesinnte Männer die Kenntnis
der Liebe der Heiligen Schrift unter den Katholiken in lobenswerter Weise zu
wecken und zu beheben suchen. Sie mögen also ihre Gunst und Hilfe den frommen
Vereinen zuwenden, die sich zur Aufgabe machen, Aufgaben der Heiligen Schrift,
besonders der Evangelien, unter den Gläubigen zu verbreiten und deren tägliche
fromme Lesung in den christlichen Familien eifrig zu fördern. Die mit
Gutheißung der kirchlichen Autorität herausgegebenen Übersetzungen der Heiligen
Schrift in die Muttersprache sollen sie durch ihr Wort und, wo die liturgischen
Gesetze es zulassen, durch entsprechende Verwendung wirksam empfehlen;
öffentliche Vorträge oder Konferenzen über Bibelfragen mögen sie entweder
selbst halten oder durch andere gut geschulte geistliche Redner halten lassen.
Biblische Zeitschriften
38 Die Zeitschriften,
die in den verschiedenen Ländern löblicherweise und mit großem Nutzen
herausgegeben werden, sollen alle Seelsorgspriester nach Kräften unterstützen
und unter den verschiedenen Klassen und Ständen ihrer Herde in passender Weise
verbreiten, sei es, dass diese Veröffentlichungen die wissenschaftliche
Behandlung und Darlegung biblischer Fragen bezwecken, sei es, dass sie die
Ergebnisse solcher Untersuchungen für die Seelsorge oder für die Bedürfnisse
der Gläubigen verarbeiten. Die Seelenhirten seien überzeugt, dass sie in der
Seelsorge eine wirksame Hilfe haben werden an diesen und allen ähnlichen
Unternehmungen, die etwa der Seeleneifer und die rechte Liebe zum Worte Gottes
zu diesem erhabenen Ziel geeignet findet.
Der biblische Unterricht in den Seminarien
39 Niemand aber kann es
entgehen, dass die Priester al diesen Aufgaben nicht richtig entsprechen
können, wenn sie nicht während ihrer Seminarjahre eine tätige und bleibende
Liebe zur Heiligen Schrift in sich aufgenommen haben. Darum mögen die Bischöfe,
denen die väterliche Fürsorge für ihre Seminarien obliegt, sorgfältig darauf
achten, dass auch in diesem Punkt nichts versäumt wird, was zur Erreichung
dieses Zieles behilflich sein kann. Die Lehrer der Heiligen Schrift sollen den
ganzen biblischen Unterricht in den Seminarien so erteilen, dass sie den jungen
Klerikern, die zum Priestertum und zur Seelsorge herangebildet werden, jene
Kenntnis der Heiligen Bücher vermitteln und jene Liebe zu ihnen einflößen, ohne
die sich im Apostolat keine reiche Frucht erzielen lässt. In der exegetischen
Erklärung sollen sie vor allem auf den theologischen Gehalt achten,
überflüssige Ausführungen vermeiden und sich nicht bei Fragen aufhalten, die
eher die Neugierde befriedigen, als dass sie das echte Wissen und die gesunde
Frömmigkeit fördern. Den Literalsinn und vor allem den theologischen Sinn
sollen sie so gründlich vortragen, so sachkundig erklären und so begeistert
einprägen, dass es ihren Hörern in etwa ergeht wie den Jüngern Jesu Christi auf
dem Weg nach Emmaus, als sie auf die Darlegungen des Herrn hin ausriefen:
„Brannte nicht unser Herz in uns, als er uns die Schrift erschloß?“ (Lk 24,32).
Die künftigen Priester und die Heilige Schrift
40 Auf diese Weise
möge die Heilige Schrift für die künftigen Priester der Kirche die reine und
unversiegliche Quelle werden für das eigene geistliche Leben, für das
Predigtamt aber, das sie übernehmen sollen, Nahrung und Kraft. Wenn die
Professoren dieses wichtigen Faches in den Seminarien dieses Ziel erreichen,
dürfen sie das frohe Bewusstsein haben, zum Heil der Seelen, zur Förderung der
Interessen der Kirche und zur Ehre und zur Verherrlichung Gottes erfolgreich
beitragen und ein wahrhaft apostolisches Werk vollbracht zu haben.
Die heilige Schrift in der jetzigen Kriegszeit
41 Was Wir im
vorausgehenden dargelegt haben, Ehrwürdige Brüder und geliebte Söhne, gilt für
alle Zeiten, aber ganz vorzüglich für unsere leiderfüllten Tage, in denen fast
alle Völker und Nationen in ein Meer von Unglück versenkt sind; in denen ein
unmenschlicher Krieg Ruinen auf Ruinen häuft und Blutbad an Blutbad reiht, in
denen bitterer Hass der Völker gegeneinander in so vielen, wie Wir mit tiefem
Schmerz wahrnehmen, jedes Gefühl nicht nur der christlichen Mäßigung und Liebe,
sondern selbst der edeln Menschlichkeit erstickt hat. Wer anders kann diese
Todeswunden der menschlichen Gesellschaft teilen als Der, zu dem der
Apostelfürst voll Lieben und Vertrauen spricht: „Herr, zu wem sollen wir
gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens.“
(Joh 6,69). Zu Ihm also, unserem erbarmungsreichen Erlöser, müssen wir nach
Kräften alle zurückführen; Er ist der göttliche Tröster der Trauernden; er ist
für alle, für die Regierenden ebenso wie für die Untergebenen, der Lehrer
wahrer Rechtlichkeit, echter Gerechtigkeit, hochherziger Liebe; Er, und Er
allein, kann das feste Fundament und der wirksame Schutz des Friedens und der
Ruhe sein. „Ein anderes Fundament kann niemand legen als das, das gelegt ist,
und das ist Christus Jesus.“ (1 Kor 3,11).
Der Trost Jesu Christi
42 Ihm aber, Christus,
den Urheber unseres Heiles, werden alle um so vollkommener erkennen, um so inniger
lieben und um so treuer nachahmen, je mehr sie zur Kenntnis und Betrachtung der
Heiligen Schrift, besonders des Neuen Testamentes, angeeifert werden. Denn, wie
der heilige Hieronymus sagt: „Die Heilige Schrift nicht kennen, heißt Christus
nicht kennen“32, und „wenn es etwas gibt, was den Weisen in diesem Leben
hält und ihn in den Bedrängnissen und Wirren der Welt den Gleichmut bewahren
lässt, dann ist es, meine ich, in erster Linie die Betrachtung und Kenntnis der
Heiligen Schrift“33. Hier wird, wen immer Widerwärtigkeit und Unglück
heimsuchen und niederdrücken, wahren Trost und göttliche Kraft zum Leiden und
zum Ausharren schöpfen; hier, in den heiligen Evangelien, offenbart sich allen
Christus, das höchste und vollkommenste Ideal der Gerechtigkeit, Liebe und
Barmherzigkeit, und dem zermartertem, angsterfüllten Menschengeschlecht öffnen
sich die Quellen der göttlichen Gnade, ohne die die Völker und die Lenker und
die Völker keine öffentliche Ruhe und keine geistige Eintracht schaffen und
erhalten können. Hier endlich werden alle Christus kennen lernen, „der das
Haupt jeglicher Herrschaft und Macht ist“ (Kol 2,10), und „der für uns von Gott
her geworden ist zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur
Erlösung“ (1 Kor 1,30).
Vom Amt der Erklärer der Heiligen Schrift
43 Damit haben wir die
Anforderungen dargelegt und anempfohlen, die die Bedürfnisse unserer Zeit an
die Gestaltung der biblischen Studien stellen. So bleibt Uns denn nur noch
übrig, Ehrwürdige Brüder und geliebte Söhne, alle Vertreter der biblischen
Wissenschaft, die ergebene Söhne der Kirche sind und deren Lehre und
Anordnungen treu befolgen, mit väterlicher Liebe zu beglückwünschen, dass sie
zu einem so erhabenen Amt erwählt und berufen sind, und ihnen zugleich Mut
machen, auf dass sie fortfahren, die glücklich übernommene Aufgabe mit täglich
neuer Kraft, mit vollem Eifer und mit aller Sorgfalt erfüllen. Wir sagen: die
erhabene Aufgabe. Denn was gibt es Höheres, als das Wort Gottes selbst, das durch
die Eingebung des Heiligen Geistes den Menschen geschenkt wurde, zu
durchforschen, zu erklären, den Glauben vorzutragen, gegen die Ungläubigen zu
verteidigen? An dieser geistigen Speise
nährt sich die eigene Seele des Schriftauslegers und kräftigt sich „zum
Gedanken an den Glauben, zum Trost in der Hoffnung und zur Ermunterung in der
Liebe34. „In diesen
Studien leben, diese Wahrheiten betrachten, nichts anderes kennen, nichts
anderes suchen: scheint euch das nicht schon hier auf Erden ein Wohnen im
Himmel?“35 Mit dieser
gleichen Speise mögen auch die Seelen der Gläubigen genährt werden; daraus
mögen sie Erkenntnis und Liebe Gottes schöpfen, Fortschritt im inneren Leben
und Glück.
Mahnung an die Erklärer der Heiligen Schrift
44 Die Erklärer der
Heiligen Schrift sollen sich alle mit ganzer Seele dieser heiligen Aufgabe
widmen. „Sie mögen beten, um Einsicht zu gewinnen“36; sie mögen
arbeiten, um Tag für Tag tiefer in die Geheimnisse der Heiligen Bücher einzudringen;
sie mögen lehren und predigen, um die Schätze des Wortes Gottes auch anderen zu
erschließen. Was die Schriftausleger in den vergangenen Jahrhunderten mit
herrlichem Erfolg geleistet haben, damit sollen auch die Exegeten unserer Tage
nach Kräften wetteifern, damit die Kirche, wie in der Vergangenheit, so auch
heute hervorragende Meister in der Schrifterklärung habe, und die Gläubigen
durch deren Wirken und Arbeiten aus der Heiligen Schrift strahlendes Licht,
Aufmunterung und Freude gewinnen. Bei dieser schweren und wichtigen Aufgabe
mögen auch sie „Trost an den Heiligen Büchern“ finden (1 Makk 12,9) und des
versprochenen Lohnes eingedenk sein; denn so heißt es: „Die Weisen werden
leuchten wie der Glanz des Firmamentes, und die viele zur Gerechtigkeit
angeleitet haben, wie die Sterne in alle Ewigkeit“ (Dan 12,3).
Segen
45 Und nun wünschen
Wir von Herzen allen Söhnen der Kirche, und besonders den Lehrern der
Bibelwissenschaft, den jungen Klerikern und den geistlichen Rednern, dass sie,
das Wort Gottes beständig betrachtend, verkosten wie gut und lieblich der Geist
des Herrn ist (Weish 12,1). Dazu erteilen Wir euch allen und jedem einzelnen,
Ehrwürdige Brüder und geliebte Söhne, als Unterpfand der göttlichen Gaben und
als Zeichen Unseres väterlichen Wohlwollens voll Liebe im Herrn den
Apostolischen Segen.
(1943), 297-326.
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