I. TEIL
Umfassende Entwicklung des
Menschen
1. Das Problem
6.
Freisein von Elend, Sicherung des Lebensunterhalts, Gesundheit, feste
Beschäftigung, Schutz vor Situationen, die seine Würde als Mensch verletzen,
ständig wachsende Leistungsfähigkeit, bessere Bildung, mit einem Wort: mehr
arbeiten, mehr lernen, mehr besitzen, um mehr zu gelten. Das ist die Sehnsucht
des Menschen von heute, und doch ist eine große Zahl von ihnen dazu verurteilt,
unter Bedingungen zu leben, die dieses Verlangen illusorisch machen. Überdies
empfinden viele Völker, die erst vor kurzem ihre nationale Selbständigkeit
erlangt haben, die Notwendigkeit, daß zu der
erlangten bürgerlichen Freiheit die gesellschaftliche und wirtschaftliche
Entwicklung hinzukomme, um ihren Bürgern eine volle menschliche Entfaltung zu
sichern und somit einen angemessenen Platz in der Gemeinschaft der Völker zu
erlangen.
7.
Vor dem Umfang und der Dringlichkeit dieser Aufgabe sind die bisherigen Mittel
unzureichend; aber sie waren nicht schlechthin falsch. Man wird sicher zugeben
müssen, daß die Kolonialmächte häufig ihre eigenen
Interessen verfolgt haben, ihre Machtstellung, ihr Ansehen, und daß ihr Abzug manchmal eine verwundbare wirtschaftliche
Situation hinterlassen hat, die z.B. an den Ertrag einer Monokultur gebunden
war, deren Erzeugnisse jähen und breiten Preisschwankungen ausgesetzt sind. Man
kann sicherlich manche Übelstände eines sogenannten
Kolonialismus und seine Folgen nicht leugnen. Trotzdem darf man auch die
Tüchtigkeit und das Werk mancher Kolonisatoren
rühmend erwähnen, die so manchem bettelarmen Land ihr Wissen und ihr Können zur
Verfügung gestellt und gesegnete Früchte ihres Wirkens hinterlassen haben. So
unvollkommen auch die damals geschaffenen Einrichtungen sein mögen, sie haben
die Unwissenheit und die Krankheit zurückgedrängt, neue Verbindungswege
eröffnet und die Lebenslage verbessert.
8.
Dies alles zugegeben, ist es trotzdem einleuchtend, daß
diese Einrichtungen schlechthin unzureichend sind, um der schwierigen
wirtschaftlichen Situation in unseren Tagen zu steuern. Wenn nämlich die
Möglichkeiten, die heute zur Verfügung stehen, nicht genutzt werden, so führt
dies notwendig zur Verschärfung der Ungleichheiten, nicht zur Entspannung, zum Mißverhältnis im Lebensstandard: die reichen Völker
erfreuen sich eines raschen Wachstums, bei den armen geht es nur langsam voran.
Die Störung des Gleichgewichts wird bedrohlicher: die einen erzeugen
Nahrungsmittel in Überfluß, während andere daran
jämmerlichen Mangel leiden oder für ihren geringfügigen Überschuß
keine gesicherten Absatzmöglichkeiten haben.
9.
Gleichzeitig haben die sozialen Konflikte weltweites Ausmaß angenommen.
Unruhen, die die ärmeren Bevölkerungsklassen während der Entwicklung ihres
Landes zum Industriestaat erfaßt haben, greifen auch
auf Länder über, deren Wirtschaft noch fast rein agrarisch ist. Auch die
ländliche Bevölkerung wird sich so heute ihrer "elenden und unheilvollen
Verhältnisse" bewußt9. Und zu allem
kommt der Skandal schreiender Ungerechtigkeit nicht nur im Besitz der Güter, sondern
mehr noch in deren Gebrauch. Eine kleine Schicht genießt in manchen Ländern
alle Vorteile der Zivilisation und der Rest der Bevölkerung ist arm, hin- und hergeworfen und ermangelt "fast jeder Möglichkeit,
initiativ und eigenverantwortlich zu handeln, und befindet sich oft in Lebens-
und Arbeitsbedingungen, die des Menschen unwürdig sind10".
10.
Ein weiterer Punkt: das Aufeinanderprallen der überlieferten Kulturen mit der
neuen industriellen Welt zerbricht die Strukturen, die sich nicht den neuen
Gegebenheiten anpassen. Ihr Gefüge, manchmal sehr starr, war der notwendige
Halt für das Leben des einzelnen wie der Familie. Die Älteren halten noch daran
fest, die Jungen entziehen sich ihnen als einem unnützen Hindernis und wenden sich
begierig den neuen Formen sozialen Lebens zu. Der Konflikt der Generationen
verschärft sich so zu einem tragischen Dilemma: entweder die Gebräuche und
Überzeugung der Väter bewahren und auf den Fortschritt verzichten, oder sich
der von außen kommenden Technik und Zivilisation öffnen und die Tradition mit
ihrem ganzen menschlichen Reichtum hingeben. Und in der Tat: der sittliche,
geistige, religiöse Halt von früher löst sich nur allzuoft
auf, ohne daß die Eingliederung in die neue Welt
genügend gesichert ist.
11.
In dieser Verwirrung wächst die Versuchung, sich durch großtuerische, aber
trügerische Versprechungen von Menschen verlocken zu lassen, die sich wie ein
zweiter Messias aufspielen. Wer sieht nicht die daraus erwachsenden Gefahren:
Zusammenrottung der Massen, Aufstände, Hineinschlittern in totalitäre
Ideologien? Das sind die verschiedenen Gesichtspunkte des Problems, um das es
geht, deren schwerwiegender Bedeutung, so meinen Wir, sich niemand entziehen
kann.
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