Adrast. Juliane.
Juliane. Adrast, Sie werden
Geduld mit ihr haben müssen.-Sie verdient es aber auch; denn sie hat das
beste Herz von der Welt, so verdächtig es ihre Zunge zu machen sucht.
Adrast. Allzugütige
Juliane! Sie hat das Glück, Ihre Schwester zu sein; aber wie schlecht
macht sie sich dieses Glück zunutze? Ich entschuldige jedes Frauenzimmer,
das ohne merkliche Fehler nicht hat aufwachsen können, weil es ohne
Erziehung und Beispiele hat aufwachsen müssen; aber ein Frauenzimmer zu
entschuldigen, das eine Juliane zum Muster gehabt hat, und eine Henriette
geworden ist: bis dahin langt meine Höflichkeit nicht. -
Juliane. Sie sind
aufgebracht, Adrast: wie könnten Sie billig sein?
Adrast. Ich weiß
nicht, was ich jetzo bin; aber ich weiß, daß ich aus Empfindung
rede. -
Juliane. Die zu heftig ist,
als daß sie lange anhalten sollte.
Adrast. So prophezeien Sie
mir mein Unglück.
Juliane. Wie?-Sie
vergessen, in was für Verbindung Sie mit meiner Schwester stehen?
Adrast. Ach! Juliane, warum
muß ich Ihnen sagen, daß ich kein Herz für Ihre Schwester
habe?
Juliane. Sie erschrecken mich. -
Adrast. Und ich habe Ihnen nur
noch die kleinste Hälfte von dem gesagt, was ich Ihnen sagen muß.
Juliane. So erlauben Sie, daß ich mir die größre erspare. (Sie will fortgehen.)
Adrast. Wohin? Ich
hätte Ihnen meine Veränderung entdeckt, und Sie wollten die
Gründe, die mich
dazu bewogen haben, nicht anhören? Sie wollten mich mit dem Verdachte verlassen, daß
ich ein unbeständiger, leichtsinniger Flattergeist sei?
Juliane. Sie irren sich.
Nicht ich; mein Vater, meine Schwester, haben allein auf Ihre Rechtfertigungen
ein Recht.
Adrast. Allein? Ach! -
Juliane. Halten Sie mich nicht länger -
Adrast. Ich bitte nur um
einen Augenblick. Der größte Verbrecher wird gehört -
Juliane. Von seinem
Richter, Adrast; und ich bin Ihr Richter nicht.
Adrast. Aber ich
beschwöre Sie, es jetzt sein zu wollen. Ihr Vater, schönste Juliane,
und Ihre Schwester werden mich
verdammen, und nicht richten. Ihnen allein traue ich die Billigkeit zu, die mich beruhigen kann.
Juliane (beiseite). Ich
glaube, er beredet mich,
ihn anzuhören.-Nun wohl! so sagen Sie denn, Adrast, was Sie wider meine
Schwester so eingenommen hat?
Adrast. Sie selbst hat mich wider sich
eingenommen. Sie ist zu wenig Frauenzimmer, als daß ich sie als
Frauenzimmer lieben könnte. Wenn ihre Lineamente nicht ihr Geschlecht
bestärkten, so würde man sie für einen verkleideten wilden
Jüngling halten, der zu ungeschickt wäre, seine angenommene Rolle zu
spielen. Was für ein Mundwerk! Und was muß es für ein Geist
sein, der diesen Mund in Beschäftigung erhält! Sagen Sie nicht,
daß vielleicht Mund und Geist bei ihr wenig oder keine Verbindung
miteinander haben. Desto schlimmer. Diese Unordnung, da ein jedes von diesen
zwei Stücken seinen eignen Weg hält, macht zwar die Vergehungen einer
solchen Person weniger strafbar; allein sie vernichtet auch alles Gute, was diese
Person noch etwa an sich haben kann. Wenn ihre beißenden
Spöttereien, ihre nachteiligen Anmerkungen deswegen zu übersehen
sind, weil sie es, wie man zu reden pflegt, nicht so böse meinet; ist man
nicht berechtiget, aus eben diesem Grunde dasjenige, was sie Rühmliches
und Verbindliches sagt, ebenfalls für leere Töne anzusehen, bei
welchen sie es vielleicht nicht so gut meinet? Wie kann man eines Art zu denken
beurteilen, wenn man sie nicht aus seiner Art zu reden beurteilen soll? Und wenn
der Schluß von der Rede auf die Gesinnung in dem einen Falle nicht gelten
soll, warum soll er in dem andern gelten? Sie spricht mit dürren Worten,
daß sie mich zu hassen anfange; und ich
soll glauben, daß sie mich
noch liebe? So werde ich auch glauben müssen, daß sie mich hasse, wenn sie sagen wird, daß sie mich zu lieben anfange.
Juliane. Adrast, Sie
betrachten ihre kleinen Neckereien zu strenge, und verwechseln Falschheit mit
Übereilung. Sie kann der letztern des Tages hundertmal schuldig werden;
und von der erstern doch immer entfernt bleiben. Sie müssen es aus ihren
Taten, und nicht aus ihren Reden, erfahren lernen, daß sie im Grunde die
freundschaftlichste und zärtlichste Seele hat.
Adrast. Ach! Juliane, die
Reden sind die ersten Anfänge der Taten, ihre Elemente gleichsam. Wie kann
man vermuten, daß diejenige vorsichtig und gut handeln werde, der es
nicht einmal gewöhnlich ist, vorsichtig und gut zu reden? Ihre Zunge
verschont nichts, auch dasjenige nicht, was ihr das Heiligste von der Welt sein
sollte. Pflicht, Tugend, Anständigkeit, Religion: alles ist ihrem Spotte
ausgesetzt. -
Juliane. Stille, Adrast!
Sie sollten der letzte sein, der diese Anmerkung machte.
Adrast. Wieso?
Juliane. Wieso?-Soll ich
aufrichtig reden?
Adrast. Als ob Sie anders
reden könnten. -
Juliane. Wie, wenn das
ganze Betragen meiner Schwester, ihr Bestreben leichtsinniger zu scheinen, als
sie ist, ihre Begierde Spöttereien zu sagen, sich nur von einer gewissen
Zeit herschrieben? Wie, wenn diese gewisse Zeit die Zeit Ihres Hierseins
wäre, Adrast?
Adrast. Was sagen Sie?
Juliane. Ich will nicht
sagen, daß Sie ihr mit einem bösen Exempel vorgegangen wären.
Allein wozu verleitet uns nicht die Begierde zu gefallen? Wenn Sie Ihre
Gesinnungen auch noch weniger geäußert hätten: -und Sie haben
sie oft deutlich genug geäußert.-so würde sie Henriette doch
erraten haben. Und sobald sie dieselben erriet, so bald war der Schluß,
sich durch die Annehmung gleicher Gesinnungen bei Ihnen beliebt zu machen,
für ein lebhaftes Mädchen sehr natürlich. Wollen Sie wohl nun so
grausam sein, und ihr dasjenige als ein Verbrechen anrechnen, wofür Sie
ihr, als für eine Schmeichelei, danken sollten?
Adrast. Ich danke
niemanden, der klein genug ist, meinetwegen seinen Charakter zu verlassen; und
derjenige macht mir eine schlechte Schmeichelei, der mich für einen Toren
hält, welchem nichts als seine Art gefalle, und der überall gern
kleine Kopien und verjüngte Abschilderungen von sich selbst sehen
möchte.
Juliane. Aber auf diese Art
werden Sie wenig Proselyten machen.
Adrast. Was denken Sie von
mir, schönste Juliane? Ich Proselyten machen? Rasendes Unternehmen! Wem
habe ich meine Gedanken jemals anschwatzen oder aufdringen wollen? Es sollte
mir leid tun, sie unter den Pöbel gebracht zu wissen. Wenn ich sie oft
laut und mit einer gewissen Heftigkeit verteidiget habe, so ist es in der
Absicht, mich zu rechtfertigen, nicht, andere zu überreden, geschehen.
Wenn meine Meinungen zu gemein würden, so würde ich der erste sein,
der sie verließe, und die gegenseitigen annähme.
Juliane. Sie suchen also
nur das Sonderbare?
Adrast. Nein, nicht das
Sonderbare, sondern bloß das Wahre; und ich kann nicht dafür, wenn
jenes, leider! eine Folge von diesem ist. Es ist mir unmöglich zu glauben,
daß die Wahrheit gemein sein könne; ebenso unmöglich, als zu
glauben, daß in der ganzen Welt auf einmal Tag sein könne. Das, was
unter der Gestalt der Wahrheit unter allen Völkern herumschleicht, und
auch von den Blödsinnigsten angenommen wird, ist gewiß keine
Wahrheit, und man darf nur getrost die Hand, sie zu entkleiden, anlegen, so
wird man den scheußlichsten Irrtum nackend vor sich stehen sehen.
Juliane. Wie elend sind die
Menschen, und wie ungerecht ihr Schöpfer, wenn Sie recht haben, Adrast! Es
muß entweder gar keine Wahrheit sein, oder sie muß von der
Beschaffenheit sein, daß sie von den meisten, ja von allen, wenigstens im
Wesentlichsten, empfunden werden kann.
Adrast. Es liegt nicht an
der Wahrheit, daß sie es nicht werden kann, sondern an den Menschen.-Wir
sollen glücklich in der Welt leben; dazu sind wir erschaffen; dazu sind
wir einzig und allein erschaffen. Sooft die Wahrheit diesem großen
Endzwecke hinderlich ist, sooft ist man verbunden, sie beiseite zu setzen; denn
nur wenig Geister können in der Wahrheit selbst ihr Glück finden. Man
lasse daher dem Pöbel seine Irrtümer; man lasse sie ihm, weil sie ein
Grund seines Glückes und die Stütze des Staates sind, in welchem er
für sich Sicherheit, Überfluß und Freude findet. Ihm die
Religion nehmen, heißt ein wildes Pferd auf der fetten Weide losbinden,
das, sobald es sich frei fühlt, lieber in unfruchtbaren Wäldern
herumschweifen und Mangel leiden, als durch einen gemächlichen Dienst
alles, was es braucht, erwerben will.- Doch nicht für den Pöbel
allein, auch noch für einen andern Teil des menschlichen Geschlechts muß
man die Religion beibehalten. Für den schönsten Teil, meine ich, dem
sie eine Art von Zierde, wie dort eine Art von Zaume ist. Das Religiöse
stehet der weiblichen Bescheidenheit sehr wohl; es gibt der Schönheit ein
gewisses edles, gesetztes und schmachtendes Ansehen -
Juliane. Halten Sie,
Adrast! Sie erweisen meinem Geschlechte ebensowenig Ehre, als der Religion.
Jenes setzen Sie mit dem Pöbel in eine Klasse, so fein auch Ihre Wendung
war; und diese machen Sie aufs höchste zu einer Art von Schminke, die das
Geräte auf unsern Nachttischen vermehren kann. Nein, Adrast! die Religion
ist eine Zierde für alle Menschen; und muß ihre wesentlichste Zierde
sein. Ach! Sie verkennen sie aus Stolze; aber aus einem falschen Stolze. Was
kann unsre Seele mit erhabenern Begriffen füllen, als die Religion? Und
worin kann die Schönheit der Seele anders bestehen, als in solchen
Begriffen? in würdigen Begriffen von Gott, von uns, von unsern Pflichten,
von unserer Bestimmung? Was kann unser Herz, diesen Sammelplatz verderbter und
unruhiger Leidenschaften, mehr reinigen, mehr beruhigen, als eben diese
Religion? Was kann uns im Elende mehr aufrichten, als sie? Was kann uns zu
wahrern Menschen, zu bessern Bürgern, zu aufrichtigern Freunden machen,
als sie?-Fast schäme ich mich,
Adrast, mit Ihnen so ernstlich zu reden. Es ist der Ton ohne Zweifel nicht, der
Ihnen an einem Frauenzimmer gefällt, ob Ihnen gleich der entgegengesetzte
ebensowenig zu gefallen scheinet. Sie könnten alles dieses aus einem
beredtern Munde, aus dem Munde des Theophans hören.
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